Die CVJM-Jugendbildungsstätte Siegerland
von Luca Marc Bettendorf
„Mitten in einer faszinierenden Waldlandschaft liegt die CVJM-Jugendbildungsstätte Siegerland. Ideale Möglichkeiten für Gemeindefreizeiten, Klassenfahrten, Konfi-Freizeiten, Tagungen zeichnen uns aus. Gäste genießen das großzügige Raumangebot für ihre Seminartage sowie die Medienausstattung. Unser einladendes Außengelände mit Spielwiese, Grillhütte, Lagerfeuerstelle und Arena ermöglicht Bewegungs- und Ruhephasen. Unsere Alleinlage mitten in der Natur fördert die Freiheit zu Bewegung und Ruhe.“
Diese Worte stehen auf der Homepage der bereits im Zitat erwähnten CVJM-Jugendbildungsstätte Siegerland. Ich persönlich bin ein langjähriges Mitglied des Christlichen Vereins junger Menschen, kurz CVJM. Der Verein war für meine Jugendzeit prägend – und doch habe ich bis vor kurzem noch rein gar nichts über das große Haus des CVJM Siegerland gehört, das sich am Rande des siegerländer Ortes Wilgersdorf befindet. Und wenn ich diese Einrichtung nicht kenne, dann wird es vielen anderen Menschen bestimmt auch so gehen. Doch damit soll Schluss sein! Mit diesem Bericht möchte ich die CVJM-Jugendbildungsstätte Siegerland einer breiteren Öffentlichkeit bekannt machen. Seid gespannt, wie viel sie zu bieten hat.
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Logo des CVJM |
Den meisten von uns ist der CVJM wahrscheinlich durch den Hit „Y.M.C.A“ der Gruppe Village People aus dem Jahr 1978 bekannt, und auch wenn dieser Song den CVJM schon gut charakterisiert, möchte ich dennoch kurz ein paar Worte über den Verein verlieren, damit die Arbeit der Bildungseinrichtung verständlicher wird. Am 6. Juni 1844 gründete George Williams den ersten CVJM – englisch YMCA – in London. Er verfolgte damit das Ziel, jungen Männern in der Großstadt Glaubens- und Lebensorientierung zu geben. Im eigenen Vereinshaus geschah dies auf biblischer Grundlage. Schnell entstand aus dieser Idee eine weltweite Bewegung. In Deutschland war der erste regionale Zusammenschluss der 1848 entstandene „Reinisch-Westfälische Jünglingsbund“ in Elberfeld. Der erste Verein mit dem Namen CVJM wurde 1883 in Berlin gegründet. Weltweit gibt es aktuell 120 Nationalverbände, die im CVJM-Weltbund mit Sitz in Genf zusammengeschlossen sind. Mit seinen Angeboten erreicht der CVJM ca. 65 Millionen Menschen. Das Leitmotiv des Weltbundes lautet: „Auf dass sie alle eins seien“ (Die Bibel, Johannes 17, 21). Das vom Weltbund ausgerufene Motto „Empowering young people“ beschreibt die Arbeit des CVJM auf allen Kontinenten.
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Andreas Graf |
Hausleitung |
An einem sonnigen Nachmittag habe ich die CVJM-Jugendbildungsstätte in Wilgersdorf persönlich besucht, um mich mit dem Hausleiter Andreas Graf zu unterhalten. Nach einem herzlichen Empfang und bei einer frischen Tasse Kaffee, konnte unser Interview starten.
Luca Bettendorf Herr Graf, was ist die CVJM-Jugendbildungsstätte, und was hat sie zu bieten?
Andreas Graf Zum einen wird die CVJM-Jugendbildungsstätte als Beherbergungsbetrieb bezeichnet. Zum anderen befindet sich hier die Geschäftsstelle des CVJM-Kreisverbandes. Dadurch vermischen sich zwei Dinge: Auf der einen Seite die Beherbergung und auf der anderen Seite die inhaltliche Arbeit des CVJM-Kreisverbandes.
Luca Bettendorf Wie sieht die Struktur des Kreisverbandes aus, und wie ist die Zusammenarbeit mit den lokalen Gruppen organisiert?
Andreas Graf Wir sind die Leitungsebene. Die Arbeit vor Ort übernehmen die Ortsvereine. Unsere Struktur ist vergleichbar mit der des Roten Kreuzes. Es gibt Ortsverbände, Kreisverbände und Dachverbände. Und wir als Mittelebene bieten zum Beispiel Schulungsarbeiten für die einzelnen Ortsvereine an und stellen dafür auch die Räumlichkeiten zur Verfügung. Ein Beispiel ist das Ehrenamt. Möchten Menschen im Zuge ihrer Konfirmation ehrenamtlich in unserer Kirche aktiv werden, bieten wir die entsprechende Schulung an. Darunter fallen auch einige Spezialthemen, wie Mädchenarbeit, Jungenarbeit, Kindeswohlgefährdung oder Kindesschutz, aber auch Kassiererschulungen oder Schulungen zur Anfertigung eines Sitzungsprotokolls für Vorstandsarbeit. Wir bieten auch Kochkurse an oder Kurse zur Hygiene auf Freizeiten.
Luca Bettendorf Bei einem so breiten Angebot sind Sie doch sicher eng mit der Region verwoben und arbeiten auch mit anderen Vereinen zusammen?
Andreas Graf Wir haben in unserem Kreisverband 52 Ortsvereine. Mit diesen sind wir eng verknüpft und koordinieren verschiedene Angebote. Wenn ein Ortsverein zum Beispiel eine Person hat, die an einer Kassiererschulung interessiert ist, dann lohnt es sich nicht für den Verein für diese eine Person eine Schulung anzubieten. Wenn sich jetzt aber zehn Personen aus zehn Vereinen finden, die an einer solchen Schulung interessiert sind, lohnt sich ein solcher Kurs, den wir dann anbieten. Anders kommen Ortsvereine aber auch aus eigener Initiative auf uns zu. Hat eine Gruppe Interesse an einem bestimmten Thema, dann sucht sie sich andere Gruppen, die auch Interesse an diesem Thema haben, und bittet dann uns, dazu eine Veranstaltung anzubieten.
Luca Bettendorf Herr Graf, welche Geschichte haben der CVJM Siegerland und die CVJM-Jugendbildungsstätte zu erzählen?
Andreas Graf 1849 hat sich der erste Verein gegründet. In den folgenden Jahren kamen immer mehr dazu, bis sich 1876 der Vorläufer unseres heutigen Kreisverbandes gründete. Das heißt, im kommenden Jahr feiern wir 150 Jahre CVJM Siegerland. Schon damals wurden die Mitarbeiterschulungen der Ortsvereine durch den Kreisverband organisiert, und mit der Zeit wurde das Angebot immer größer. Als die Posaunenbläser ein eigenes Angebot forderten, wurde ein größerer Raum benötigt. Als der Sport hinzukam, wurde ein größerer Raum benötigt. Die alten Räumlichkeiten – Gemeindehäuser, Vereinshäuser – wurden zu klein, und man hat sich in ähnlichen Häusern wie diesem hier eingemietet, bis der Kreisverband auf die Idee kam, selbst ein solches Haus zu bauen. Die erste nachweisliche Belegung war im September 1980.
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Lageplan, Quelle: cvjm-jugendbildungsstaette.de | Luftbild, Quelle: Google Earth | Lageplan und Luftbild überlagert |
Luca Bettendorf Nachdem der Kreisverband damals beschloss, ein solches Haus zu bauen, stand natürlich die Frage im Raum, wo? Wie ist das Haus zu dieser Stelle gelangt?
Andreas Graf Anfangs war es wünschenswert, eine zentrale Lage in Siegen zu bekommen. Damals hatte der Kreisverband sein Büro noch in der Metzgerstraße. Jedoch wurden an die Lage einige Kriterien gestellt: Erstens brauchte man ein großes Grundstück, zweitens durfte es nicht im Wohnbereich liegen.
Luca Bettendorf Warum nicht?
Andreas Graf Allen war klar, dass es Stress mit den Bewohnern geben würde, würde dieses Haus, das von vielen Schülern und Konfirmanden besucht werden wird, im Wohnbereich errichtet werden. Drittens wollte man auch nicht in ein Industriegebiet, sondern auf die grüne Wiese. Und wenn hohe Ansprüche an die Größe des Grundstücks gestellt wurden – wir haben hier 20.000 m² –, schrumpfte schnell die Auswahl an Möglichkeiten. Im Gespräch waren Kreuztal, Freudenberg und Wilnsdorf, wo am Ende dann die Entscheidung auf Wilnsdorf viel. Durch die Lage an einer Übergangsstraße liegt das Haus verkehrsgünstig.
Luca Bettendorf Sind Sie selber glücklich über diese Lage?
Andreas Graf Ja unbedingt. Das ist auch etwas, was viele unserer Gäste schätzen. Bedingt durch das große Grundstück haben wir viele Parkmöglichkeiten. Wir stören niemanden, und die örtlichen Geschäfte sind in Reichweite. Außerdem können wir mehr Angebote machen, weil wir durch eine städtische Lage nicht eingeschränkt sind.
Luca Bettendorf Herr Graf, wer besucht ihr Haus? Wer sind Ihre Besucher, und wo kommen sie her?
Andreas Graf Anfangs war geplant, das Haus nur für die Ortsvereine und ihre Mitglieder zur Verfügung zu stellen. Als man dann feststellte, dass man an ein paar Wochenenden und unter der Woche noch Platz hat, ging man gezielt auf andere christliche Gruppen und Schulklassen zu. So kamen an den Wochenenden immer öfter christliche Gruppen und unter der Woche Schulklassen in unser Haus, und das hat sich bis heute nicht geändert.
Luca Bettendorf Wie werden die Angebote der Bildungsstätte finanziert. Gibt es Spenden und Sponsoren?
Andreas Graf Der Bau des Hauses wurde neben eines Kredites tatsächlich über Spenden finanziert. Jetzt ist unser Haus schuldenfrei. Eine Personalstelle wird vom Evangelischen Kirchenkreis bezuschusst. Ebenso wird ein Teil der Bildungsarbeit über die AEJ – die Arbeitsgemeinschaft Evangelische Jugend – bezuschusst.
Luca Bettendorf Wie ist der Tagesablauf eines Bildungsseminars? Wie sieht die Struktur aus? Wie geht es morgens los, über den Tag weiter, bis zum Abend?
Andreas Graf Der Tagesablauf ist klar strukturiert. Es geht morgens mit einem Frühstück los, das wir in Gleitzeit anbieten. Um neun, halb zehn geht es dann mit dem ersten Programmpunkt los. Entweder in unseren Seminarräumen oder im Outdoor-Bereich. Nachdem es dann um halb eins Mittagessen gegeben hat, geht es um zwei weiter im Programm. Je nach Seminar gehen die ungefähr bis um fünf, worauf das Abendessen um sechs folgt. Ein Abendprogramm gestalten die Gruppen in Eigenregie. Diese Tagesstruktur haben alle Gästegruppen, egal ob unter der Woche eine Schulklasse bei uns ist oder am Wochenende eine christliche Gemeindegruppe. Das Morgenprogramm ist meistens Bibelarbeit, und am Nachmittag machen die jungen Leute verschiedene Workshops. Der Abend ist dann oft bunt gestaltet mit verschiedenen Spielen, Fußballspielen oder -schauen. Schulklassen haben oft Teambuilding-Games oder Outdoor-Pädagogik auf dem Programmplan.
Luca Bettendorf Stemmen Sie die gesamte Programmpalette alleine oder haben Sie da Hilfe?
Andreas Graf Neben eigenem Fachpersonal zu Angeboten freuen wir uns über Kooperationspartner. Beispielsweise die Hoodis, die im nahegelegenen Wald einen Erlebnispark betreiben. Die betreiben viel Teambuilding-Games, Outdoor- und Erlebnispädagogik. Hat eine Schulklasse Lust auf das Programm der Hoodis, erkundigt sie sich nach einem freien Termin und bucht ihn. Und hier sind es meistens die Klassen fünf, die hierfür Interesse zeigen, da sie am Anfang ihrer gemeinsamen Schulzeit stehen und die Herausforderung meistern müssen, Kinder aus unterschiedlichen Regionen mit unterschiedlichen Charakteren und individuellen Erfahrungen zusammenzubringen. Bei den Hoodis lernen die Kinder dann viel über ihre neuen Mitschüler, aber auch über sich selbst.
Luca Bettendorf Welche Entfernungen sind die Besucher bereit auf sich zu nehmen? Wie groß ist ihr Einzugsgebiet? Ist es eher regional?
Andreas Graf Unser Einzugsgebiet ist ungefähr eine, anderthalb Stunden Fahrtzeit groß. Das gibt unsere Struktur vor. Wenn eine Gruppe ein Wochenende bei uns verbringen möchte, steigt sie morgens an der Schule in einen Reisebus ein und ist dann gegen Mittag bei uns am Haus, sodass anschließend das Haus besichtigt und gegessen werden kann und noch genug Zeit am selben Tag für das erste Programm bleibt.
Luca Bettendorf Was ist der bisher am weitesten entfernte Ort, aus dem eine Gruppe angereist ist?
Andreas Graf Hamburg.
Luca Bettendorf Warum sollten Schulklassen und ihre Lehrer dieses Haus besuchen? Welchen Mehrwehrt bietet es ihnen? Sie haben schon einen Haufen Gründe im Laufe unseres Interviews genannt, aber vielleicht können Sie mir eine zusammenfassende Antwort geben.
Andreas Graf Alle Schulklassen, die uns besuchen kommen, genießen den Freiraum, den sie hier haben. Und wegen dieses Freiraums können wir eine Menge Angebote unter freiem Himmel anbieten. Auch das wird unheimlich geschätzt. Darüber hinaus ist es so, dass, wenn mehrere kleinere Gruppen zu Besuch kommen, diese sich auf unserem großen Gelände kaum begegnen. Großer Pluspunkt ist unsere eigene Sporthalle. Wir sind eine der wenigen Bildungseinrichtungen, die eine eigene Sporthalle besitzt. Ein echtes Alleinstellungsmerkmal. Dann unsere großen Seminarräume. Jetzt gerade haben wir eine Jahrgangsstufe mit vier Parallelklassen zu Besuch, und alle Schüler passen in einen Raum und können dort gemeinsam sitzen. Das alles schätzen unsere Gäste sehr und deswegen kommen sie auch wieder.
Luca Bettendorf Wie messen Sie Ihren Erfolg? Welche Kriterien berücksichtigen Sie?
Andreas Graf Da kann ich gut an die vorherige Frage anschließen. Wenn eine Gruppe ein zweites, drittes Mal oder öfter wiederkommt, ist das für uns ein Zeichen des Erfolgs. Dann spielen Bewertungen eine wichtige Rolle. Melden uns die Gäste, dass sie hier eine schöne Zeit hatten, es ihnen gefallen hat, sie wiederkommen möchten oder uns weiterempfohlen haben. Die Belegungszahlen sind ein wichtiger Indikator zum Messen unseres Erfolges, und diese geben wir auch weiter an das Statistische Bundesamt. Um das mal zu verdeutlichen: Die Gemeinde Wilnsdorf verzeichnet pro Jahr ca. 43.000 Übernachtungen. Ungefähr 20.000 davon sind bei uns. Wir sind damit eine wirtschaftliche Größe in der Region.
Luca Bettendorf Schätzen Sie eher Stammgäste oder neue Gäste?
Andreas Graf Zur Messung unseres Erfolges haben Stammgäste einen höheren Wert.
Luca Bettendorf Erzählen Sie mir doch bitte ihr schönstes Lob, das Sie bisher bekommen haben.
Andreas Graf Mein schönstes Lob war im Rahmen eines Auszubildendenseminars. Viele Unternehmen machen hier Auszubildendenseminare, unter anderen eine große Firma aus Neunkirchen. Nach drei Seminaren sind sie auf mich zugekommen und haben mir gesagt, sie könnten bei uns keine Seminare mehr buchen. Nachdem ich fragte, warum nicht, antworteten sie mir: „Ja, unsere Azubis waren mit der Schule hier, die waren mit ihrer Konfi-Gruppe hier. Die kennen das Haus. Die kommen hierher, und denken hier sei Freizeit und nicht Azubi-Camp. Das können wir unseren Leuten nicht mehr anbieten. Die waren schon andauernd hier. Wir müssen uns ein anderes Haus suchen.“ Und das war ein Lob. Da merke ich einfach, dass das guttut.
Luca Bettendorf Herr Graf, dazu passend die Frage: Worauf sind Sie besonders stolz?
Andreas Graf Stolz bin ich immer, wenn uns Gruppen besuchen, die aus einer anderen Community oder einer anderen Sparte kommen. So hatten wir mal eine Gruppe der thailändischen christlichen Community hier. Die haben hier Taufen gefeiert. Dann haben wir im Sommer eine sehr interessante Gruppe hier: Die WIMA, die Women's International Motorcycle Association. Das sind motorradfahrende Frauen aus ganz Europa. Da erwarten wir 300 Motorradfahrerinnen hier. Im Moment werden wir auch von Gruppen entdeckt, die aus dem Bereich Cheerleading und Gardetanz kommen – überwiegend aus dem Kölner Raum. Die buchen bei uns eben wegen unserer Sporthalle. Wenn uns solche Gruppen besuchen kommen, bin ich immer sehr begeistert.
Luca Bettendorf Und gibt es auch ein ganz bestimmtes Projekt, auf das Sie sehr stolz sind?
Andreas Graf Das war ein langfristiges Projekt. Mit meiner Anstellung hier in diesem Haus damals war das Projekt einer FSJ-WG verbunden – FSJ seht für Freiwilliges Soziales Jahr. Wir wollten es jungen Leuten ermöglichen, sich hier ein Jahr auszuprobieren. Wir haben den jungen Erwachsenen eine Unterkunft geboten und sie bei der Erfahrung begleitet, alleine zu wohnen, sich selbst zu versorgen und in das Berufsleben einzusteigen. Das war einfach richtig spannend. 30 junge Leute haben wir in zehn Jahren vom Schülerleben ins Erwachsenenleben begleitet.
Luca Bettendorf War das Projekt an Bedürftige gerichtet, oder konnte jeder teilnehmen, der Lust hatte, diese Erfahrung zu machen?
Andreas Graf Das war keine Unterstützungsleistung im engeren Sinne. Es war mehr als Orientierungshilfe für Schüler gedacht, die die Schule beendet haben und nicht wussten, wie es weiter gehen sollte. Oft bestehen nur grobe Pläne, wie zum Beispiel, dass sich der junge Mensch sozial engagieren möchte. Und anfangs hatten wir auch FSJler hier, die von weiter weg kamen und für die es attraktiv war, das erste Mal alleine zu leben in einer WG zusammen mit Menschen, die weder Familie noch Freunde waren, sondern aus denen erst noch Freunde werden mussten.
Luca Bettendorf Das war sicherlich unheimlich aufregend.
Andreas Graf Total! Sie lebten das erste Mal alleine, mussten sich selbst versorgen und organisieren, und gleichzeitig lernen sie in unserem Betrieb vier Berufssparten kennen, wo sie dann am Ende sagen, das möchte ich jetzt erlernen. Und das war ein großer Erfolg.
Luca Bettendorf Was sind die Herausforderungen, denen sich die Bildungsstätte stellt?
Andreas Graf Wir sind ein 45 Jahre altes Haus. Es braucht dringend einen Sanierungsschub. Das sind auch die Antworten, die wir bekommen auf die Frage unserer Feedbackbögen: Was sind Verbesserungsvorschläge? Zum Beispiel unsere Zimmer. Die sind noch immer auf dem Stand von vor 45 Jahren. Das Mobiliar ist erneuert, keine Frage. Es sind vielmehr die Anzahl der Zimmer und der Betten. Dann Dusche und WC. Wir haben nicht auf jedem Zimmer ein Badezimmer. Das wird aber heute erwartet. Die Größe der Zimmer und auch der Fenster. Ein modernes Gebäude hat Fenster, die gehen bis zum Fußboden. Und dieses Sanierungsprojekt wird ein großes Projekt werden und uns die nächsten fünf, sechs Jahre beschäftigen.
Luca Bettendorf Wie hat sich Jugendarbeit heute im Vergleich zu damals entwickelt. Was hat sich geändert in der Zeit von der Gründung des Hauses bis zum heutigen Tag – dem Tag unseres Interviews?
Andreas Graf Ganz großes Thema, zum Beispiel auch bei der Jahrgangsstufe, die jetzt gerade bei uns ist. Jahrgangsstufe fünf, vier Parallelklassen. Das ist ihre absolut erste Klassenfahrt. Ihre Klassenfahrt in der Grundschule war coronabedingt ausgefallen. Und sonst sind sie bisher auch nur mit den Eltern verreist. Heißt: Zum ersten Mal Koffer gepackt für eine Reise ohne Eltern. Zum ersten Mal in einen Reisebus gestiegen. Und das merken wir am Verhalten der Kinder. Das ist ausufernder. Dann hat sich das ganze Thema der Kommunikation und Interaktion stark verändert.
Luca Bettendorf Haben Sie ein Beispiel?
Andreas Graf Früher wussten die Kinder noch, wie man miteinander kommuniziert, ohne dass es eskalierte. Und heute ist jeder sofort doof, der den anderen nur seltsam anguckt, und das wird dann auch tatkräftig untermauert. Dazu kommen noch, ich sage mal Soft Skills. Ganz einfache Dinge. Beispielsweise Vereinbarungen einhalten. Wenn wir abmachen, dass es um halb eins Mittagessen gibt, dann können Sie davon ausgehen, dass ungefähr die Hälfte nicht da ist. Aber nicht, weil sie sich an die Abmachung nicht gebunden fühlen, sondern weil die Kinder nicht wissen, wann ist halb eins. Oder Sie hören jetzt gerade, dass die Kinder vorne auf den Tresen klopfen, weil sie Geld für den Getränkeautomaten gewechselt haben möchten. Dabei haben wir ein Schild auf dem Tresen, dass nur zu bestimmten Zeiten Geld gewechselt wird. Es ist ein großes Problem, das Schild zu entdecken, zu lesen, zu erfassen und sich dann zu denken: Ich warte mal. Nein, es muss jetzt sofort sein. Ich habe jetzt ein Bedürfnis, und das muss jetzt sofort erledigt werden.
Luca Bettendorf Gibt es ein bestimmtes Ding oder eine ganz bestimmte Sache in diesem Haus, die Sie online nicht preisgeben, von der Sie aber meinen: Schon cool, das wir sie haben.
Andreas Graf Unsere Kegelbahn. Die ist schon echt toll, und die bietet unserem Haus nochmal einen echten Mehrwert.
Luca Bettendorf Herr Graf, Welche Musik beschreibt die Atmosphäre in diesem Haus am besten?
Andreas Graf Aus Sicht der Gäste würde ich Reggae sagen. Da spielt aber auch mein persönlicher Musikgeschmack ein bisschen mit rein. Vom Rhythmus kommt Reggae gegen den Strich daher. Das ist dieses ruhig schreitende Lebensgefühl. Chillig. Die Leute, die hierherkommen, sind schon oft tiefenentspannt, weil die merken, dass hier eine neue Geschichte hinzukommt. Und Reggae hat in der Regel auch immer eine Aussage. Und das passt auch zu unserem Haus. Jeder, der hierherkommt, hat auch immer ein Ziel vor Augen. Jeder möchte etwas. Das ist dieses Gemütliche. Hier gelten andere Spielregeln. Man begegnet sich anders als Zuhause oder in der Gemeinde. Und das hat irgendwie was lässiges. Deswegen passt für mich der Reggae am besten.
Luca Bettendorf Lieber Herr Graf, vielen Dank für dieses schöne Gespräch und für Ihre Zeit!
Andreas Graf Sehr Gerne!
(2025)