Der Mudersbacher Handwerker-Stammtisch

von Felix Engelhardt

Wie viele Gemeinden rings um Siegen liegt Mudersbach in einem gemütlichen Tal. Östlich der Bahnstrecke, auf der – vielen Studierenden und BerufspendlerInnen gut bekannt – der Regionalexpress 9 verkehrt, werden die Häuser immer jünger, je höher man bergan klettert. Vom Bahnhof aus sind durch dieses Neubaugebiet knapp 120 Höhenmeter zurückzulegen, um an den Punkt am Wanderweg auf der »Hohen Ley« zu gelangen, an dem man in einer Bewaldungsschneise ein 60 Jahre altes Stückchen Geschichte vorfindet.

»Über dem Siegtal weithin sichtbar« titelt die Siegener Zeitung im Spätherbst 2021.[1] In der Rhein-Zeitung spricht man im selben Jahr sogar vom Mudersbacher »Wahrzeichen«.[2] Tatsächlich macht der aus blassgrünem Aluminium gefertigte und mit LED-Glühbirnen bestückte »Stern mit Schweif« was her; nicht nur aus der Ferne, am besten von der gegenüberliegenden Siedlung aus zu bestaunen, sondern auch vor Ort, wo die 18 Meter lange und gut sieben Meter hohe Konstruktion sich an senkrechten Vierkantrohren aufgehängt befindet – aber nicht das ganze Jahr über. Nur vom 1. Advent bis zur Epiphanias am 6. Januar dürfen Stern und Schweif an der Aufhängung verbringen und erstrahlen.

Am 14. Dezember 2022 empfängt mich der Mudersbacher Handwerker-Stammtisch im gemeindeeigenen Schützenhaus in halber Stärke; sechs Mitglieder sind für ein Interview an dem Ort zusammengekommen, wo sonst auch der Stammtisch tagt.

Sechs Stammtischbrüder, v. l.: Tomasz Makowski, Stefan Frei, Patrick Noppe, Frank Hussing, Helmut Mockenhaupt, Michael Heiden. Den Stern sieht man klein im Hintergrund leuchten.

Angehörige des Schützenvereins tummeln sich um den Ausschank und machen bierselige Bemerkungen. In der Sitzecke vor mir prosten sich die Stammtischbrüder zu. Tomasz Makowski und Stefan Frei sind die jüngsten Zugänge, vor Corona waren sie noch nicht dabei. Frank Hussing, Meister in der Metallverarbeitung, ist sehr bedacht darauf, dass die Jüngeren von den Traditionen des Stammtischs hören. Michael Heiden zeigt mir auf dem Handy Aufnahmen vom Sternaufbau im November. Links von mir sitzt Helmut Mockenhaupt, er ist Rentner, und rechts Patrick Noppe, Selbstständiger. Er humpelt beim Gehen merklich und benötigt einen Gehstock, seit er bei einer Operation einen Schlaganfall erlitten hat. Zur geselligen Runde kommt er gern; bei den handwerklichen Tätigkeiten der Gruppe fällt er leider seitdem aus.

Gleich kommen wir auf das Prunkstück des Stammtischs zu sprechen: den Stern. Obwohl die Mudersbacher keinen Kontakt zu benachbarten Handwerker-Zusammenschlüssen pflegen, sind dem Stammtisch ähnliche Sterne aus umliegenden Gemeinden bekannt: In Anzhausen bei Rudersdorf gebe es einen, und ein bisschen siegabwärts in Wissen. »Der hat 'nen Schweif, der geht nach oben!« Erheitert wird darüber spekuliert, ob das gewollt ist, oder ob die Kollegen sich vertan haben. »Das sind die sogenannten Nachbauten. Es gibt noch einen in Betzdorf … vor zwei Jahren waren die hier und haben hier spioniert, wie der aussieht und haben den nachgebaut. Und die haben den aber – ich hab' den gesehen – ein bisschen geschrumpft. Der ist ein bisschen klein geworden.« Stolz ist man auf den eigenen Stern, ist er doch schöner, größer und »formvollendet gestaltet«[3], wie sich der Berichterstatter Rainer Schmitt von der Siegener Zeitung ausdrückt, der dem Stammtisch schon jahrelang die Treue hält.

Inzwischen bin ich sicher, dass die geologischen Eigenheiten des Siegerlands dazu beitragen, dass man an mehreren Orten nicht nur Kreuze und erleuchtete Weihnachtsbäume auf Anhöhen hinstellt, sondern eben auch große Weihnachtssterne. In flacheren Regionen wäre ein ähnliches Unterfangen wohl reizlos.

»Warum nicht einfach nur ein Stern, sondern ›mit Schweif‹?«, frage ich ganz naiv. Der Schweif gehört für die Mudersbacher unabdingbar dazu; er soll genauso aussehen, wie man ihn an handelsüblichen Krippen findet, den Stern von Bethlehem. Traditionelle Darstellungen orientieren sich am Christusmonogramm und sind daher sechs- oder achtstrahlig.[4] Viele heutige Weihnachtssterne werden mit fünf Zacken dargestellt.[5] Nicht so der Mudersbacher Stern. Das hat geometrisch-ästhetische Gründe: Die Sehnen einer Zacke laufen auf die jeweils drittnächste Spitze zu und bilden so ein Heptagramm, einen Stern mit sieben Zacken. Und eigentlich handelt es sich ja um einen Kometen (ein aus dem Altgriechischen stammendes Wort eben für ›Schweifstern‹[6]), der in der Bibel den Weisen aus dem Morgenland am Himmel begegnet sein soll. Ich denke mal, das Christuskind nimmt es nicht so genau.

 

Abb. 3

Jedes Jahr pünktlich: Die Handwerker bei der Arbeit

Einmal im November und einmal im Januar rücken die Handwerker möglichst vollzählig aus, um den Stern auf- bzw. abzubauen. An Ostern gibt es auch zu tun, dann richtet man an selber Stelle ein Kreuz auf, das ebenfalls mit Glühbirnen bestückt ist. Manchmal kommt schweres Gerät zum Einsatz, »ein Trecker mit 'nem Heber, oder ein Kran, je nachdem.« Auf dem Foto einer früheren Aufbauaktion sieht man tatsächlich einen der Handwerker im hoch erhobenen Frontlader eines Traktors stehen.

Abb. 4

Beim Abbau 2023 genügt allerdings eine Leiter, auf die Neuling Stefan Frei geschickt wird, um den ausladenden Schweif aus seiner Halterung zu lösen. Der Elektriker des Teams behilft sich mit einer Holzplanke, die er lose auf die Querverstrebung legt, steigt bis zum in vier Metern Höhe gelegenen Stromkasten auf und trennt die Stromzufuhr.

Wenn ganz oben im »Buckel«, also im Schweifbogen, eine Birne durchbrennt, dann wird es eng; die voll ausgezogene Leiter muss mit einem Spanngurt an einer der Sitzbänke befestigt werden, und dann schrauben Frank Hussing oder ein anderer Freiwilliger während der laufenden Saison die neue Birne in gut sieben Metern Höhe ein. Das sei gar nicht so einfach. »Der ganze Stern wackelt«, sagt Stefan Frei. Helmut Mockenhaupt zeigt mir ein zehn Jahre altes Bild, auf dem sein rechter Arm in einer Schlinge liegt: »Das sind die Zeiten, wenn man beim Sternaufbauen nicht aufpasst und liegt auf der Fresse. Noch keiner ist tot geblieben, aber ich brech' mir den Arm.«

Sieben Handwerker sind an diesem Samstag am Werk. Die meisten tragen Fleecejacken und Arbeitsschuhe, der Elektriker trägt einen Filzhut, wie er zur Wandermode gehört.

Zwei Stahlseile sind am Schweif befestigt. Diese werden über Handseilwinden auf Spannung gebracht, und sobald die Verankerung gelöst ist, kann der Schweif langsam abgelassen werden. Anschließend packen alle an, um den Schweif über eine Böschung hinunter zu einem kleinen Plateau zu tragen, auf dem einige Holzböcke zur Zwischenlagerung vorbereitet stehen. Dort wird noch einmal angeknipst; die Birnen, die nicht bis zum Schluss durchgehalten haben, werden entsorgt. Es gibt ein bisschen Unruhe, weil der Schweif auf den unterschiedlich hohen Böcken nicht gleichmäßig aufliegt. Einer schimpft: »Gleich fällt hier alles um.«

Abb. 5Dazu kommt es nicht. Das Auseinanderschrauben mit Ratschen und T-Schraubenschlüssel geschieht schleunigst und problemlos. Die Verschraubungen fallen samt Muttern in Hartplastikkisten. Der Schweif wird kompakt zusammengefaltet und in vier Teilen eingelagert. Die Endstation für den Stern ist ein schmales Lager in einer kleinen, vom Wald geschützten Hütte. Es gibt auch einen Raum zum Zechen. Die kleine Klause misst innen nicht viel mehr als 2x4 Meter. Es riecht leicht muffig und nach Gasofen. Der Tisch ist so schmal, dass kaum zwei Reihen Teller Platz finden. Eine Wand hat Fachwerkoptik, die andere ist mit Spanplatten verkleidet. Hier hängt der Stammtisch Erinnerungsfotos auf.

Abb. 6Ich werfe einen Blick in eine weitere Kammer, in der auf rustikalen Regalen Ersatzmaterial verstaut ist. In einem Metallschrank stehen um die 50 Schnapsgläser mit Aufdruck »Goldener Oktober, Arbeit im Weinberg« und sehen ziemlich fleckig aus; die sind ewig nicht benutzt worden.

Zwischenzeitlich gönnt sich der Stammtisch eine Pause bei Helmut Mockenhaupts Kaminwürstchen. Ich bekomme auch eine Knackwurst im Brötchen und ein Radler. »Das Gelände gehört dem Hauberg«, erklärt Mockenhaupt. In der Umgebung wurde zuletzt viel Wald entfernt. Die Übeltäter nennen sich Käfer und Kyrill; der Orkan hat 2007 viele Bäume einknicken lassen, und der Borkenkäfer vernichtete zuletzt ganze Waldbestände. Nichtsdestotrotz müssen die Handwerker das Gelände unterhalb des Sterns pflegen und selbst Bäume stutzen, damit das Sichtfenster für den Stern groß genug bleibt.

Wenig später – Mockenhaupt will noch seine Würstchen an den Mann bringen – wird schon geschäftig weitergeschraubt, jetzt auch mit Akkuschrauber. Der nun schweiflose Stern von Bethlehem wird ohne Hilfsmittel abgenommen und in zwei gleiche Stücke zerlegt.10x5000

Abb. 7Abb. 8Abb. 910x5000

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Der Stern zieht einige Aufmerksamkeit auf sich, was man auch daran erkennt, dass die anderen Weihnachtssterne nicht solche Zeitungslieblinge sind; die MitarbeiterInnen der Rhein-Zeitung fahren regelmäßig am Wissener Exemplar vorbei, um über den Mudersbacher Stern zu berichten.

In der Gemeinde herrscht eine große Genugtuung über das, was der Handwerker-Stammtisch jedes Jahr ermöglicht: Kinder sähen den Stern morgens aus dem Schulbus, überlegt Tomasz Makowski. Aus dem Gemeindekindergarten sei der Stern vorzüglich sichtbar. Aber der Stern sei für alle, wirft ein anderer ein. Auch für Durchreisende. Vom RE9 aus kann man ihn streckenweise auch beobachten. Es hätten sich schon Schaffner geäußert, auch ein Lokführer, der, von Köln kommend, in Siegen Endstation macht: »›Wenn ich nach Mudersbach komme und sehe den Stern, dann hab' ich noch 'ne Viertelstunde und dann hab' ich Feierabend.‹«

Seit dem Entstehen der Tradition hat es noch kein einziges Jahr einen Ausfall gegeben. »Da legen wir großen Wert drauf«, sagt Frank Hussing, »deswegen haben wir gesagt, auch während der Pandemie: Stern wird aufgestellt, Kreuz wird aufgestellt; das muss funktionieren!« »Die Leute warten da drauf«, so Mockenhaupt. Nachdem die Stromversorgung weniger aufwendig und deutlich günstiger wurde, beschloss man, den Stern nicht erst zum zweiten Advent, sondern schon zum ersten aufzustellen. »Wenn der am ersten nicht brennt …«, warnt Mockenhaupt, »… dann geht das Telefon«, ergänzt Hussing. Mockenhaupt simuliert ein Telefongespräch: »›Was ist denn mit dem Stern?‹ – ›Heute abend um 17 Uhr geht der an.‹ – ›Ah, dann ist gut!‹«

 

Der Stammtisch im 20. Jahrhundert

So fing es an: Um 1960 kamen jeden Montagabend Handwerker verschiedener Couleur in die Mudersbacher Gaststätte »Zur Linde«. Hobby-Handwerker bildeten die Ausnahme. Es gab Elektriker, Dachdecker, Autoschlosser, Maurer, einen Maler, der später Versandmitarbeiter wurde. Auch mal dabei waren ein Lkw-Fahrer, ein Sachverständiger einer Versicherung oder auch ein Mitarbeiter eines Sauerstoffwerks. Die Vielfalt der Berufe ermöglichte es der Gruppe, fast alle anstehenden Arbeiten selbst auszuführen. »Wenn einer ausfiel«, meistens aufgrund seines Ablebens, so erklärt Mockenhaupt trocken, »dann wurde immer wieder nachgeholt.« Über Neuzugänge stimmten die Aktiven ab. Ganz am Anfang, im Jahr 1960, waren es zwölf, aktuell sind es elf Stammtischbrüder. Die Gruppengröße war über die Jahre stets gleichbleibend; das könnte damit zusammenhängen, dass die Einwohnerzahl Mudersbachs zwar bis 1960 allmählich angewachsen war, sich aber von da an bei rund 6.000 einpendelte.[7] Viele der alten Namen kann Helmut Mockenhaupt aus dem Gedächtnis referieren. Patrick Noppe, der seit 2005 dabei ist, besitzt einen dicken Ordner mit Originaldokumenten, darunter eine Chronik, in der die Gründer – kunstvoll kalligraphiert – namentlich festgehalten sind.

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Die Ursprünge datieren noch weiter zurück, bis ins Jahr 1919, als auf 365 Metern ü. NN auf der Hohen Ley erstmals ein Kreuz aufgestellt wurde, damals von Gastwirt Emil Zöller und Fotograf Peter Kinkel. Das taten die beiden angeblich aus Dankbarkeit, den Ersten Weltkrieg überlebt zu haben. In der »Linde« sprach man bewundernd über diese Leistung und beschloss, das Kreuz zu erneuern. 1962 brachten die jungen Männer ihr Kreuz auf dem Berg an. Die zweite Generation tauschte das Kreuz in den 80er Jahren nochmals aus und brachte eine Gedenktafel an. Damit fand aber eine Umwidmung statt: Gewürdigt wurden nicht länger die Kriegsveteranen, sondern »Schwester Edmundine«, eine Mudersbacher Altenpflegerin.[8]

Abb. 14Abb. 15Abb. 1610x5000

Bei Abb. 17dem massiven Holzkreuz ließ man es nicht bewenden. Der Stammtisch »Zur Linde« schuf Mitte der 60er erstmals den Stern mit Schweif, zimmerte alles aus Dachlatten zusammen. Doch dieser erste Stern, meldete die Siegener Zeitung, sei »vom Mudersbacher Weihnachtshimmel gefallen«[9]. Er sog sich im berühmten Siegerländer Regenwetter mit Wasser voll und wurde von einer Böe weggefegt. In späteren Jahren wurde der Stern wetterbeständig gemacht, indem man auf Leichtmetall umstieg, aber bei Sturm knickt doch manchmal noch das ein oder andere Gestänge ein.[10] Den aktuellen Stern schweißten zwei Stammtischbrüder aus Aluminiumlatten zusammen, die eine ansässige Firma stiftete. Für die geleistete Arbeit vergüten sich Handwerker und Firmen gegenseitig schon mal mit einem Kasten Bier.

Die Geschichte des Sterns ist, wenn man so will, auch eine elektrotechnische Fortschrittsgeschichte: Zuerst betrieb man ihn mit einer Autobatterie, genauer einer Lkw-Batterie, die freundlicherweise ein Kfz-Meister vom Mercedes Bald in Siegen auflud. Leider hielt die Batterie nur kurze Zeit; alle ein bis zwei Tage musste jemand zum Aufladen nach Siegen fahren. Um sich den Aufwand zu sparen, führte kein Weg daran vorbei, ein Kabel von der Wohnsiedlung durch den dicht bewachsenen Wald zu ziehen. Die Mitglieder schätzten die Distanz; wer am gröbsten danebenlag, hatte eine Flasche Schnaps zu spendieren.[11] Zwischen 600 und 700 Meter lang wurde das Kabel. Es blieb nicht aus, dass das mal riss und geflickt werden musste. Nun ist alles einfacher, bequemer; beim nahegelegenen Hochbehälter haben die Stammtischbrüder inzwischen einen eigenen Stromzähler, und es müssen nur noch 50 Meter überbrückt werden.

Mitten im Gespräch über die Stromversorgung klopft es an den Türrahmen. »Ja? Bier könnt ihr mal bringen«, lautet Mockenhaupts Reaktion. Das hier ausgeschenkte Bier aus der Erzquell-Brauerei, die nur eine Ortschaft weiter in Niederschelden steht, nennt er »Herztropfen«.

 

Der Stammtisch in der Jetztzeit

Es wird noch eine Runde ausgegeben. Mockenhaupt erzählt wieder aus seinen frühen Jahren beim Stammtisch:

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»Wenn wir da oben fertig waren, so nachmittags um drei oder was, dann gingen wir in die ›Linde‹ … aber richtig in die ›Linde‹! …ach, mancher Treckerfahrer, der wusste gar nicht mehr, dass er mit'm Trecker nach Haus' gefahren ist; hat den einen Kollegen auch noch mit dem Trecker nach Hause gebracht und wusste von nichts.«

Helmut Mockenhaupt gehört seit 1995 zum Stammtisch, seit dem Jahr, in dem ich geboren bin. Heute hat er die »Dienstältesten«-Stellung inne. Der 70-Jährige erinnert sich: »Wir sind früher montags morgens auf die Arbeit und haben dann schon gewartet, dass 19 Uhr wurde, dass man 19:30 Uhr in der Linde beim Stammtisch saß …« – »… da haben wir schon mit den Füßen gescharrt«, wirft Patrick Noppe ein. »Da wurde man schon nervös. Das ist heute nicht mehr so.«

Die »Linde« machte 2011 als letzte Dorfkneipe dicht. Die Stammtischbrüder traf das unvorbereitet. Sie organisierten auf die Schnelle eine Zelttischgarnitur. Eine Kurzmeldung in der Zeitung lässt verlautbaren, man habe »vermutet, dass der Wirt es verschlafen hätte. Der Wirt hatte aber nicht verschlafen, sondern das berühmte Handtuch geworfen.«[12] Darauf heißt es, der Stammtisch habe sich in einer Pizzeria einquartiert.[13] Aber schon bald konnte Patrick Noppe seinen obdachsuchenden Stammtisch an den Schützenverein vermitteln, was dazu führte, dass man den Montagabend hier im Schützenhaus verlebte. Das Gebäude der »Linde« steht übrigens noch; sie ist um ein Vielfaches älter als der Handwerker-Stammtisch. Nebenan an der Theke sitzt zufällig der Enkel des ehemaligen Besitzers, der bestätigt, dass die Gaststätte wohl schon um 1600 entstanden ist.

Dann kam Corona: Die regelmäßigen Zusammenkünfte fielen erst mal aus. Seit geraumer Zeit trifft man sich höchstens einmal im Monat, dann oft nur zu viert oder zu dritt. Ein paar von den älteren Kollegen lassen sich bitten, schieben berufliche Gründe vor. Der eine macht Krankengymnastik. Ein anderer wohnt zurzeit in Thailand. Die Auflösungserscheinungen betreffen hauptsächlich die Geselligkeit. »Wenn da oben zu arbeiten ist – kein Problem: dann kommen sie«, versichern die Stammtischbrüder. »Dann sind wir eigentlich ziemlich vollzählig,«10x5000

An Arbeit fehlte es im neuen Jahrtausend nicht: Ein Stückchen hinter dem Stern ragt das Kreuz aus Leimbinderholz auf, das 2015 zuletzt erneuert wurde. Die zugehörige Felsformation ist seit 2008 mit einer Heiligenfigur geschmückt, einer Madonna Immaculata; Abb. 20die Handwerker schraubten den Sockel, auf dem sie steht, fest in den Stein ein und fügten ein wenig später auch noch eine kniende Bernadette hinzu. Die Anwohner stellen fleißig Kompositions-Öllichter in kleinen Grablaternen auf, die ringsum stehen, manchmal auch Blumen. Das Ganze wirkt wie ein Schrein unter freiem Himmel. Auch die Montage eines Dorfkreuzes mit Kruzifix übernahm der Handwerker-Stammtisch. Bei all den religiösen Symbolen lag die Frage nahe, ob sich der Stammtisch als christlich bzw. katholisch versteht. Patrick Noppe verneint das; es wird nur erledigt, was anfällt.

Wenn man das Früher gegen das Heute abwägt, sind viele Unterschiede zu sehen: Ein alter Zeitungsartikel erzählt davon, wie man zur Weihnachtszeit eine riesige Fichte den Berg raufgeschleppt hat.[14] Die zeitgenössischen, optimierten Hilfsmittel sorgen dafür, dass weniger Muskelkraft und Schweiß zum Einsatz kommen müssen, und dass man schneller fertig ist. Das Lagerfeuer ist gegen einen Grillkamin ausgetauscht. Auch gelangt man mit dem Auto in nullkommanichts zum Stern. Und noch eine weitere Bequemlichkeit leistet sich – nur allzu verständlich – der Stammtisch. Früher hieß es: Sie »lassen sich beim Montieren auch nicht durch das schlechteste Wetter vertreiben.«[15] Die Handwerker der Post-Covid-Ära richten sich sehr wohl nach dem Wetter. Bei anhaltendem Regen oder bei Tiefschnee wird auf einen Alternativtermin ausgewichen.

Frank Hussing lamentiert, nicht ohne Süffisanz, dass um halb eins schon wieder Schluss ist auf der Hohen Ley. »Eine Flasche Bier und dann müssen sie alle nach Hause.« »Dafür war die Kiste das letzte Mal aber schnell leer«, hält Stefan Frei dagegen. Zugleich äußert er seinen Eindruck, dass man heute mitunter andere Vorstellungen hat von der Geselligkeit, die Helmut Mockenhaupt vermisst.

Trotzdem: Die Pandemie konnte der Arbeit des Stammtischs keinen Abbruch tun, daher lässt man sich auch von der im Jahr 2022 angelaufenen Energiekrise nicht einschüchtern. Hat die Stromrechnung vor einiger Zeit noch an die 300 Euro betragen, gingen die Kosten sukzessive zurück, dank Umstieg auf LEDs und weniger Spannungsverlust. »Ich hab' voriges Jahr 46 Euro bezahlt«, sagt Mockenhaupt, und für die nächsten Jahre sind auch genügend Glühbirnen gebunkert. Kaum zu glauben, dass die 120 Glühbirnen des Sterns in über einem Monat so wenig verbrauchen. Zur Teuerung des Stroms um den Jahreswechsel sagt Helmut Mockenhaupt daher: »Kein Problem.«

Eine Frau wurde in die Handwerker-Runde übrigens noch nicht nachgeholt. »Wir sind ein reiner Männerstammtisch«, bekräftigt Hussing. Die Frauen der Handwerker kennen sich untereinander, aber abgesehen vom gelegentlichen Zusammentreffen auf dem Schützenfest sieht man sich eher selten. Der letzte gemeinsame Ausflug liegt viele Jahre zurück. Dafür hatte man einen Bus gechartert. Alle hätten sich extra an die Fensterseite gesetzt, damit es von außen so aussieht, als ob der Bus voll sei. Auf einer Rast im Westerwald gab's »Herztropfen« und heiße Fleischwurst. Ziel war ein Koblenzer »Tanzpalast« an der Mosel, und über den Westerwald ging es wieder zurück ins Siegerland.

»Das haben sie früher auch gemacht. Aber das ist ja heute das Problem. Du kriegst – sie – nicht – mehr – unter einen Hut«, wiederholt sich Mockenhaupt, während er zur Unterstreichung mit der flachen Hand auf den Tisch klopft. Wir erheben uns aus der Sitzecke, auf der der Verein einen Schützenpokal drapiert hat. Vorm Haus mache ich ein Foto von meinen Gesprächspartnern, im Hintergrund ist der Stern als helles Pünktchen zu erkennen. Anschließend darf ich noch in Helmut Mockenhaupts altem Stammtisch-Fotoalbum blättern, während seine Frau mir Gesellschaft leistet und zu den Bildern noch so manche Erläuterung abgibt. Dann fahre ich mit der Bahn nach Hause.

Neue und kontaktfreudige Mitglieder kann ich dem Mudersbacher Stammtisch naturgemäß nicht verschaffen. Der vorliegende Beitrag soll ein Porträt zum Zurückerinnern für die Zukunft sein.

(2023)


Bildquellen: Titelbild und Abbildungen 2, 6-12, 17 und 20 von Felix Engelhardt. Die übrigen Abbildungen – inklusive der Bildkommentare in Abb. 3, 14 und 19 – stammen mit freundlicher Genehmigung des Stammtischs aus dessen gesammelten Dokumenten und aus einem privaten Fotoalbum.


Anmerkungen:

[1] Rainer Schmitt: »Über dem Siegtal weithin sichtbar«, in: Siegener Zeitung, 22.11.2021, https://www.siegener-zeitung.de/lokales/altenkirchen/kirchen/imposanter-weihnachtsstern-auf-der-hohen-ley-ueber-dem-siegtal-weithin-sichtbar-5LQV6EYJGZDQ6VU7IYVVH6OMKP.html [Abruf am 22.01.2023].

[2] Markus Döring: »Wahrzeichen strahlt bis zum Dreikönigstag: Mudersbacher Weihnachtsstern leuchtet über dem Siegtal«, in: Rhein-Zeitung, 23.12.2021, https://www.rhein-zeitung.de/region/aus-den-lokalredaktionen/kreis-altenkirchen_artikel,-wahrzeichen-strahlt-bis-zum-dreikoenigstag-mudersbacher-weihnachtsstern-leuchtet-ueber-dem-siegtal-_arid,2352041.html [Abruf am 22.01.2023].

[3] Rainer Schmitt: »Mudersbacher Weihnachtsstern ›runderneuert‹«, in: Siegener Zeitung, 23.12.2019, https://www.rhein-zeitung.de/region/aus-den-lokalredaktionen/kreis-altenkirchen_artikel,-wahrzeichen-strahlt-bis-zum-dreikoenigstag-mudersbacher-weihnachtsstern-leuchtet-ueber-dem-siegtal-_arid,2352041.html [Abruf am 22.01.2023].

[4] Vgl. Günter Spitzing: Lexikon byzantinisch-christlicher Symbole. Die Bilderwelt Griechenland und Kleinasiens, München 1989, S. 288.

[5] Vgl. Edouard Urech: Lexikon christlicher Symbole, Konstanz 1979, S. 224.

[6] Vgl. Munzinger Online/Duden - Das Herkunftswörterbuch; 6., neu bearbeitete Auflage, Berlin 2020 [Abruf am 12.6.2023].

[7] Vergleiche hierzu Daten des Statistischen Landesamts Rheinland-Pfalz: Mein Dorf, meine Stadt. https://infothek.statistik.rlp.de/MeineHeimat/tscontent.aspx?id=103&l=3&g=0713207072&tp=46975&ts=tsPop01 [Abruf am 22.01.2023].

[8] Diese Informationen sind auf einer Infotafel vor Ort nachzulesen.

[9] Berthold Daube: »Stammtischler sorgen für den Weihnachtsstern«, in: Rhein-Zeitung. Ausgabe H - Altenkirchen, 30.11.1971, S. 7.

[10] »[B]ei einem Sturm im vergangenen Winter war der Schweif abgeknickt«. Schmitt: »Mudersbacher Weihnachtsstern ›runderneuert‹«, a.a.O.

[11] Daube, a.a.O.

[12] Helmut Mockenhaupt: »Kaum zu glauben« (Leserbrief), in: Siegener Zeitung. Ausgabe Kreis Altenkirchen, 23.07.2011, S. 8.

[13] Daniel Montanus: »Letzte Kneipe geschlossen«, in: Siegener Zeitung. Ausgabe Kreis Altenkirchen, 14.07.2011, S. 6.

[14] Vgl. o. A.: »Weihnachtsbaum strahlt wieder über dem Siegtal« (Redakteur Kreis Altenkirchen und Nachbargebiete: Horst Koch), in: Siegener Zeitung, 29.11.1971, Bl. 2 / S. 1.

[15] Ebd.