von Betül Macit

Im Jahr 1945 endete mit der Kapitulation Japans der Zweiten Weltkrieg. Die Folgen des Krieges waren für alle Beteiligten verheerend. In Deutschland befreiten die alliierten Besatzungsmächte zunächst alle inhaftierten Überlebenden aus den Konzentrationslagern. Unter den Befreiten befand sich auch Louis Rosenberg aus Siegen, der nach Theresienstadt deportiert worden war. Ungefähr drei Jahre nach seiner Verschleppung aus Siegen war Louis wieder frei. Bis er in der Unterkunft für Displaced Persons in Deggendorf (Bayern) interniert werden konnte, blieb er in Theresienstadt. Das Quartier für Displaced Persons wurde von den alliierten Mächten errichtet, um die ehemaligen KZ-Häftlinge neu anzusiedeln. Bis ihm die englische Besatzung am 13. August 1947 die Erlaubnis zur Übersiedlung nach Israel zu seinem Sohn Willy gab, blieb Louis Rosenberg in Deggendorf

Während seines Aufenthaltes in Deggendorf hielt er den brieflichen Kontakt zu seiner Familie immer aufrecht, soweit dieser nicht von äußeren Faktoren verhindert wurde. Viele Briefe von seinen Geschwistern, Kindern und Freunden sind erhalten. Im Folgenden werden einige Ausschnitte aus den überlieferten Briefen von Louis vorgelegt, die die damalige Situation der Familie wiederspiegeln. Ungefähr 70 Antwortbriefe sind noch vorhanden. Die Briefe von Louis sind nicht überliefert außer einer Postkarte aus Theresienstadt für eine Bekannte, Frau Marta Nies aus dem Jahre 1944. Louis’ Gefühle, Gedanken oder Wünsche, die er in seinen Briefen verfasst haben mag, bleiben uns verborgen. In allen Briefen der Familie werden die an Louis geschickten Päckchen samt ihren jeweiligen Inhalten sowie das baldige Wiedersehen der gesamten Familie in Jerusalem thematisiert.

Louis’ Sohn Willy schrieb ihm am 21. August 1945 aus Ayelet Hashahar (Israel):

,,Du kannst Dir gar nicht vorstellen, was es bedeutetet, nach so langen Jahren zwischen hoffen und bangen wieder diese Anschrift zu schreiben mit der guten Gewissheit, dass Dich dieser  Brief auch erreicht.  Es dauert ja so lange, bis wir durch eine Zeitung, welche die Namen der ja so wenigen überlebenden Juden verbreitet, erfuhren, dass Du lieber Vater, am leben bist. Wie geht es Dir jetzt? Wie ist Deine Gesundheit? Wir sehnen uns ja so sehr nach Dir, ach wenn Du doch schon bei uns sein könntest.“

Diese wenigen Zeilen vermögen nur bedingt einen Eindruck von der Situation zu vermitteln, in der sich die Familienmitglieder befanden. Die Unsicherheit über die Situation in Deutschland war auf beiden Seiten groß. In vielen Briefen wurden die Inhalte der Pakete, die an Louis geschickt wurden, präzise aufgeführt in der Hoffnung, dass er sie auch wirklich bekommen haben möge:

,,Als Deine Karte kam,  haben wir sofort noch ein Paket fertig gemacht, und zwar sandten wir 2 Garnituren warme Unterwäsche, 2 Paar Strümpfe, etwas Zigarren, 40 Stück, und 2 Päckchen Zigaretten sowie 1 Tafel Schokolade.“  (Sally, der Bruder von Louis Rosenberg,  am 13.01.1946 aus Middle Village/Long Island, NY).

Die Aufhebung der Schranken des Luftpostverkehrs durch die Alliierten ermöglichte es den Verwandten in Palästina und in Amerika, Briefe und Pakete an Louis zu schicken. Die Briefe, die Louis und seine Familie miteinander wechselten, handelten oft von der geplanten Überfahrt Louis` zu seinem Sohn.

,,Nun zu wissen, dass Du es dort gut hast und sicher gut aufgehoben bist,  bis Deine Befreiung hier zu uns kommt, welches doch hoffentlich recht bald kommen wird. Es ist traurig, dass man (auf) die Menschen, welche dort hier zu ihren Kindern gleich können, noch keine Rücksicht nimmt.“ (Schwester Emma am 3. März 1946 aus Kiryath Bialik, Israel)

Die seelische Unterstützung durch die Angehörigen von Louis war enorm; sie versuchten, ihn  brieflich in das Familiengeschehen einzubinden, da es ihm immer noch versagt war, direkt daran teilzuhaben. Neue Familienmitglieder wurden (schriftlich) vorgestellt und von Familienfeiern berichtet. Außerdem sollten die an Louis geschickten Pakete sein Leben in materieller Hinsicht erleichtern. Aber auch Louis bemühte sich, sein altes Leben wiederzuerlangen. Um das Lager für Displaced Persons endlich verlassen zu können, schrieb er am 20. Januar 1946 aus Deggendorf das Bürgermeisteramt Hamm a.d. Sieg an und bat um seine Geburtsurkunde, die er auch zugesandt bekam. Erst im Brief von Sally, den er am 17. April 1947 an Louis schrieb, wird dessen Einreiseerlaubnis zum ersten Mal erwähnt:

,,Gleichzeitig mit dem Eintreffen von den Lieben brachten uns diese die beglückende Nachricht, dass Du Deine Einreiseerlaubnis nach Palästina hast, was Dir ja inzwischen bekannt geworden ist. Wie wir alle darüber beglückt sind, kann ich Dir gar nicht in Worten schildern.“

Auch weitere Briefe mit Glückwünschen für die Reise nach Palästina erreichten Louis:

,,Lieber Onkel, Louis!

Mit großer Freude haben wir von Deiner bevorstehenden Einreise gelesen und Tante Emma hat uns so viele Angenehmes von Deinen Kindern, Enkeln und dem Leben im Kibbuz geschildert, dass Du mit Freude Deinem neuen Leben entgegensehen kannst, und mit herzbesten Wünschen für Gesundheit und langes Leben im Kreis Deiner Familie verbleibe ich mit vielen Grüßen an Willy und Familie.“ (Gretel, Nichte von Louis).

,,Wir lassen uns so viel schönes erzählen von dem heiligen Lande und besonders Willy und seiner Frau und Enkelkindern, dass wir im Geiste mit Dir reisen. Hoffentlich wirst Du bald Reisegelegenheit und (?) Schiffplatz bekommen, und so war also Deine Hoffnung und Mut kein Trugbild. (Franziska, Schwester von Louis).

Die Überfahrt nach Israel erfolgte mit der Erlaubnis der englischen Besatzer im August des Jahres 1947. Im Alter von 72 Jahren konnte Louis seine Familie in Ajetleth Haschachar endlich wiedersehen. Dort erwarteten ihn sein Sohn Willy mit Ehefrau Nursia Talisnik und die Enkelsöhne. Er erhielt dort weiterhin von seinen nächsten Verwandten Briefe und Pakete, obwohl es ihm bei seinem Sohn gut erging. Sally schrieb in einem Brief aus dem Jahre 1950:

,,Meine Lieben!

Die Bilder haben mich sehr erfreut, ich sandte diese Franziska ein. Du, lieber Louis, siehst wieder wie früher aus, …“

Der Siegener Louis Rosenberg begann ein neues Leben in Israel. Die physischen und psychischen Wunden, die seine Haft im Konzentrationslager hinterließ, konnten jedoch weder im heiligen Land noch durch das Zusammensein mit der Familie geheilt werden. Nicht ganz sechs Jahre nach seiner Einreise  starb Louis Rosenberg am 4. Februar 1953 im Schlaf.


Die Geschichte der Familie Rosenberg steht für viele andere jüdische Familien im Nachkriegsdeutschland, für Zusammenhalt und Lebenswillen. Durch diese Unterstützung schaffte es Louis Rosenberg, zu seiner Familie zurückzukehren – nicht in Siegen, sondern in Ayelet Hashahar (Israel).

Zur Erinnerung an Louis Rosenberg wurde am 17. April 2010 in der Sandstraße 167, die zuvor die Adolf-Hitler Straße 83 war, ein Stolperstein verlegt, der von Landrat Paul Breuer gespendet wurde.

Die Enkelsöhne von Louis, Willys Söhne Rami und Yitzchak, leben heute gemeinsam mit ihren Familien in Dänemark. Der jüngste Enkelsohn Elizer lernt im Jahr 1979 die Dänin Pia Tvilum kennen, die als Volontärin nach Israel gekommen war. Kurze Zeit später heirateten sie und zogen gemeinsam mit ihren beiden Töchtern nach Dänemark. Beide wollten ein neues Leben beginnen; Elizer integrierte sich in die dänische Gesellschaft und begann eine Arbeit als Lagerist. Sie leben nun seit 23 Jahren in Fredericia. In Dänemark leben ca. 7000 Juden; eine jüdische Gemeinde gibt es in Fredericia nicht. Dort befindet sich lediglich ein alter jüdischer Friedhof, der von der damaligen jüdischen Gemeinde zwischen 1675-1902 errichtet worden war.

In den Jahren 2007 und 2008 besuchte das Ehepaar Rosenberg Betzdorf und Siegen; sie  sahen sich dabei auch das ehemalige Konfektionsgeschäft des Großvaters von Louis in Betzdorf, das er gemeinsam mit seiner Frau betrieb. Auch die Gedenktafel in Siegen für die verstorbenen Juden besichtigten sie. Das Ehepaar verewigte sich im Goldenen Buch der Gemeinde Betzdorf.

rosenberg1Empfang des Ehepaars Rosenberg im Betzdorfer Rathaus. (Links: Betzdorfs Bürgermeister Brato, rechts: Pia und Elizer Rosenberg.)

Frau Traute Fries, freie Mitarbeiterin des Aktiven Museums Südwestfalen, ist es zu verdanken, dass dieser Artikel entstehen konnte. Durch ihr Engagement sind wertvolle persönliche Briefe in unserer Hände gelangt, die nicht nur für uns und unsere Arbeit von Bedeutung sein sollten, sondern auch für die Bürger dieser Region. Es ist wichtig, an die Gräueltaten des Nazi-Regimes zu erinnern. Von großer Wichtigkeit ist es aber auch, der Menschen zu gedenken, die unter diesem Regime gelitten haben. Genau dafür setzt sich Frau Fries ein, und  auch deshalb möchten wir uns hiermit noch einmal herzlich bedanken.