von Johanna Weber

Situation am Ende des 2. Weltkrieges

Ein kleiner Handwagen, ein Rucksack, ein Holzkoffer mit wenigen Habseligkeiten. Dies war oft der ganze Besitz der Flüchtlinge, die im 2. Weltkrieg aus ihren Heimatorten vertrieben wurden und sich oft wochen- und monatelange auf der Flucht befanden. Hunderttausende verloren dabei ihr Leben oder wurden von ihrer Familie getrennt. Besonders in den Ostgebieten wurden viele Deutsche durch sogenannte „Wilde Vertreibungen“ von der roten Armee ausgewiesen.

Erst durch die Potsdamer Beschlüsse im Jahr 1945, wurde die Flucht und Vertreibung in einem gewissen organisatorischen Rahmen geplant und durchgeführt. Allein die Anzahl Deutscher Flüchtlinge aus den Gebieten Polen, Tschecheslovakei und Ungarn betrug ca.14 Millionen. Diese Menschen wurden auch Ostzonenflüchtlinge genannt. Sie flohen, begleitet von Hunger, Kälte und Furcht, aus ihren Heimatorten in das deutsche Reich und hofften dort auf Hilfe und Unterstützung. In Deutschland jedoch fehlte es an Wohnungen und Arbeitsplätzen, zudem war die Bevölkerung im Westen meist ahnungslos und unwissend über die Aussiedlungssituation im Osten.

Beginn des Lagers am Wellersberg

Da es in vielen deutschen Städten am Ende des 2. Weltkrieges kaum genug Wohnungen für die eigene Bevölkerung gab, wurden für die Flüchtlinge Lager angelegt, die primär der Registrierung und Sammlung dieser dienen sollten. So auch in Siegen.

Ab 1945 befand sich auf der ehemaligen Herzog-Ferdinand-Kasernenanlage am Wellersberg ein Lager für deutsche Soldaten, die aus russischer Gefangenschaft entlassen worden waren. Es wurde jedoch auf Grund der verkehrgünstigen Lage, der Angrenzung an die amerikanische, französische und britische Zone und dem großen Kasernenkomplex von der Militärregierung in Arnsberg beschlossen, dort ein Durchgangslager für Flüchtlinge aus den Ostgebieten zu errichten. Dies geschah bereits am 31. Oktober 1945. Das Lager wurde Anfang des Jahres 1946 in Betrieb genommen und hatte seine Hauptaufgabe in der Aufnahme, Registrierung und Weiterleitung der Flüchtlinge. Die Kapazität des Lagers lag bei etwa 1500 Menschen. Die ersten Flüchtlingsströme erreichten das Lager bereits im Januar 1946, welche vor allem Flüchtlinge aus der Ostzone, entlassene Wehrmachtssoldaten und evakuierte Siegenerfamilien brachten. Darüber hinaus beherbergte das Lager ausgewiesene Schlesier, die zwischen März und Juli 1946 unter der Aktion „Schwalbe“ kamen, Flüchtlinge aus der französischen Zone, die während der Aktion „Wespe“ ausgesiedelt wurden und auch aus russischem Zonengebiet erreichten Flüchtlinge das Lager während der Aktion „Honigbiene“. Insgesamt wurden im Lager am Wellersberg, bis zu seiner Schließung im Jahr 1951, über 309.316 Menschen durchgeschleust. Diese Menschen waren physisch und psychisch in einem sehr schlechten Zustand und benötigten ärztliche Versorgung. Sie wurden einer Registrierung und schließlich der Weiterleitung unterzogen.

Leben im Flüchtlingslager Wellersberg

Da große Teile der ehemaligen Kasernen Anlage am Wellersberg durch den Krieg zerstört wurden, waren die Gebäude in einem sehr maroden Zustand und die Unterkünfte schlecht und kaum bewohnbar. Ein Schreiben des Siegener Oberbürgermeisters vom 4. Dezember 1945 gibt Auskunft über Herrichtung der zerstörten Kaserne zu einem Flüchtlingslager. Für den Aufbau wurden Siegener Bürger zwangsverpflichtet. Diese Sanierungsmaßnahmen hatten allerdings wenig Erfolg und die schlechten Wohn- und Hygieneverhältnisse im Lager änderten sich erst nach der Währungsreform in Deutschland im Jahr 1948. Da ab diesem Zeitpunkt mehr Geld zur Verfügung stand, konnten bessere Betten und Unterkünfte bereitgestellt werden. Zudem wurden die Krankenstation aufgerüstet und die Duschräume saniert.

Der Aufenthalt der Flüchtlinge begann am Siegener Bahnhof und verlief nach einer genauen Planung. Die Flüchtlinge kamen, meist in der Nacht, mit der Bahn an und wurden mit LKWs ins Lager gefahren. Dort mussten sie sich einer Entlausung, ärztlichen Untersuchung und schließlich der Registrierung unterziehen. Kranke, Alte und reiseunfähige Personen wurden stationär auf der eigenen Krankenstation aufgenommen, viele wurden jedoch auch in das Hilfskrankenhaus Hilchenbach gebracht, da die Kapazitäten im Lager oft überschritten waren.

Allein im Jahr 1946 wurden 169.366 Menschen durch das Lager geschleust. Oft bis zu 1500 Menschen pro Transport, die jedoch nur wenige Stunden blieben und dann weitergeleitet wurde. Die Menschen, die für längere Zeit im Lager lebten, wohnten mit bis zu 30 Flüchtlingen in einem Raum und schliefen in dreistöckigen Betten, wobei jedem Erwachsenem ein Bett zustand, Kinder jedoch zu zweit ein Bett teilen mussten. Es gab wenige Toiletten, keine Schränke und insgesamt herrschten schlechte hygienische Zustände. Die Menschen wurden vor allem durch kirchliche Organisationen beider Konfessionen betreut, wie z.B durch das DRK, die Caritas und die Innere Mission. Mit Hilfe dieser Organisationen wurden die Flüchtlinge zumeist mit Kleidung und kleineren Dingen, wie Zigaretten ausgestattet. Die Lebensmittelversorgung belief sich auf drei Mahlzeiten am Tag, von denen eins ein warmes Gericht darstellte, meist Gemüsesuppe oder Eintopf. Zudem bekam jeder Lagerbewohner pro Tag 270g Brot, 41g Fleisch mit Knochen und 12g Fett, 20g Käse und 35g Marmelade. Nach der Währungsreform 1948 wurde jedem Flüchtling pro Woche ein Taschengeld von 1 DM ausgegeben. Viele Kinder verdienten sich zusätzlich Geld, durch Schrottsammlung, Ziegelputzen und ähnliche Arbeiten. Der Schulunterricht wurde in der Anfangszeit des Lagers kaum durchgeführt. Erst ab 1948 konnten ältere Kinder die Obenstruth-Schule besuchen und ab 1949 übernahmen zwei Lehrkräfte den Unterricht der jüngeren Kinder. Es wurde vor allem Wert darauf gelegt den Kindern Ordnung und Pflichtbewusstsein zu lehren, da andere Dinge, oft auf Grund des kurzen Aufenthaltes, nicht möglich und sinnvoll waren.

Ab dem Jahr 1947 wurde ein starker Zuwachs im Lager aus der sowjetisch besetzen Zone registriert. Hierbei handelte es sich um Flüchtlinge, Landstreicher und politische Flüchtlinge. Für viele Siegener Bürger waren diese Menschen jedoch „asoziale und arbeitsscheue“ Elemente und die Aufnahme in den Gemeinden des Siegerlandes wurde beschränkt. Dies führte dazu, dass das Lager Wellersberg, welches ursprünglich als Durchgangslager geplant war, zu einem Dauerlager wurde. Da nun die Kapazitäten des Lagers weit überschritten waren, kam es zu Mangelversorgungen und Krankheiten im Winter 1947/48, wobei es unter den Kindern im Lager eine Massenepidemie gab, an der 300 Kinder erkrankten und acht starben, obwohl im Dezember 1947 der 2. Lagerarzt Herr Dr. Grimm eingestellt wurde. Da nun das Lager zu einem Dauerlager geworden war, empfanden einige Siegener diese Situation als unerträglich und forderten die Schließung des Lagers, da sie selbst große Belastungen durch die Zerstörungen des Krieges hätten und zudem mit der größeren Anzahl der Flüchtlinge die Kriminalität und Demoralisierung in der Stadt steigen würden. Es ist jedoch viel wahrscheinlicher, dass das Flüchtlingslager am Wellersberg die Bürger an eine Zeit erinnerte, die sich vergessen und verschweigen wollten und daher sollte dieses erinnernde Relikt entfernt werden.

Ende des Flüchtlingslagers und heutige Entwicklung

Am 31. Oktober 1951 wurde das Lager am Wellersberg geschlossen und ein neuer Standort in Unna-Massen beschlossen. Viele ehemalige Flüchtlinge wurden im Siegerland ansässig und 1970 lebten 45.000 ehemalige Flüchtlinge mit ihren Familien im Kreis Siegen- Wittgenstein.

Für die Siegener Bevölkerung konnte mit der Schließung des Lagers die Zeit des Krieges und des Hitler Regimes endgültig totgeschwiegen werden, ebenso wie das Lager am Wellersberg, dass immer mehr in Vergessenheit geriet. Erst im Jahr 2004 wurde ein Projekt der Universität Siegen unter Prof. Dr. Jürgen Reulecke, Dieter Pfau und Rainer Seidel ins Leben gerufen, welches zu einem Buch und einer Ausstellung über das Lager führte, welches von 1946 bis 1951 mehr als 300.000 Flüchtlinge aufnahm und somit das größte Lager in NRW darstellte.


Literatur:

Pfau, Dieter; Seidel, Heinrich Ulrich (Hg.): Nachkriegszeit in Siegen 1945-1949, Flüchtlinge und Vertriebene zwischen Integration und Ablehnung. Siegen 2004.

Pfau, Dieter: Kriegsende 1945 in Siegen. Bielefeld 2005.

Quellen:

Wagener, Paul: Flüchtlinge im Siegerland. Eine soziologische Studie. Weidenau (Sieg) 1950.

Ansprache des Lagerleiters Alfred Becker am 4. November 1951, Abschiedsfest nach 6-jährigem Bestehen des Flüchtlingslagers am Wellersberg.