von Montalbano Elicona ins Siegerland

von Monika Hoffmann

Seit Mitte der 1950er Jahre war es in Westdeutschland aufgrund des andauernden wirtschaftlichen Aufschwungs zu einem erheblichen Arbeitskräftemangel gekommen. Zunächst hatten die Unternehmen auf unterschiedlichste Weise versucht, ihren Bedarf zu decken. Die erstmals seit 1955 geschlossenen Anwerbeabkommen für Arbeitskräfte zwischen Deutschland und Italien waren ein beliebtes Mittel, um die immer schwieriger werdende Lage auf dem Arbeitsmarkt zu überwinden. Nach 1955 wurden ähnliche Anwerbeabkommen auch mit Griechenland (1960), Spanien und der Türkei (1961) geschlossen.

Die ersten Gastarbeiter waren eine willkommene Arbeitskraftreserve für die Wirtschaft in vielen Regionen Westdeutschlands, auch für die Industrieunternehmen im Siegerland. Insgesamt befand sich die deutsche Wirtschaft ab der zweiten Hälfte der 1950er Jahre wegen der stark gestiegenen Nachfrage im Vollbeschäftigungsmodus. Dies galt besonders für die Metallindustrie sowie den Bergbau, aber auch für die Bau- und Landwirtschaft. Die ausländischen Arbeitskräfte brachten für die Wirtschaft zwar das Problem mit sich, dass sie angelernt werden mussten, dafür besaßen sie aber den unschlagbaren Vorteil, nicht nur besonders motiviert, sondern auch billiger als einheimische Arbeiter zu sein.

anwerbung arbeitsvertragBei den ersten Anwerbeabkommen mit den teilnehmenden Ländern war ein Rotationsprinzip der Gastarbeiter angedacht gewesen, d.h. die Arbeiter sollten nach einer bestimmten Zeit zurückkehren und durch neue Arbeitskräfte ausgetauscht werden. Man stellte schnell fest, dass sich dieses Prinzip nicht durchhalten ließ. Im Gegenteil: Oft kam es zu einer längeren Aufenthaltsdauer von im Schnitt sechs bis acht Jahren. Wegen der besseren Verdienstmöglichkeiten in der neuen Heimat hatten immer mehr Gastarbeiter allmählich begonnen, ihre Familienangehörigen nachzuholen. Hinzu kam, dass es bis zum vollkommenen Anwerbestopp 1973, oft nur noch eine beschränkte Möglichkeit des Erhalts einer Arbeitsgenehmigung bei erneuter Einreise gab. Ein entscheidender Faktor dafür, dass sich viele für einen dauernden Aufenthalt in Deutschland entschieden, wird sicher auch die Tatsache gewesen sein, dass sich die wirtschaftliche Lage in den Heimatländern der Gastarbeiter nicht in dem Maße verbessert hatte, wie die Wirtschaft zur gleichen Zeit in der Bundesrepublik Deutschland. So wurden aus Gastarbeitern ganz allmählich ausländische Arbeitnehmer, Mitbürger und Nachbarn.

Es stimmt ein wenig nachdenklich, dass z.B. in der heimischen Presse in den Anfangsjahren sehr selten über die Gastarbeiter in der Region berichtet wird - und wenn, kommen sie nur in Form von ein paar trockenen Zahlen vor. So betitelte die Siegener Zeitung vom 12. April 1961 einen ihrer Artikel wie folgt:

„Immer mehr ausländische Kräfte im Siegerland“

und schreibt weiter: „… am 31. Dezember 1960 haben sich im Siegerland 965 beschäftigte Ausländer befunden, darunter 275 Italiener und 225 Spanier.“ Der Artikel fährt fort: „Wenn man diese Zahlen mit denen anderer Bezirke vergleicht, kommt man zu dem Ergebnis, dass im Siegerland noch viel zu wenig ausländische Arbeitskräfte beschäftigt werden.“

Italienische Gastarbeiter in Siegen – das Ehepaar Giuseppe und Nina F.

Bei meiner Suche nach Zeitzeugen, die selbst einmal vor langer Zeit als „Gastarbeiter“ im Siegerland gearbeitet haben, kam mir ein glücklicher Zufall zu Hilfe. So kam es, dass ich an einem Novembertag 2016 der freundlichen Einladung des Ehepaares Giuseppe und Nina F. nach Eckmannshausen folgte, um mir von ihnen ihre bemerkenswerte Lebensgeschichte erzählen zu lassen.

Ich wurde in die geräumige Wohnküche ihres Hauses gebeten, wo mir, nach einer anfänglichen und allseitigen Befangenheit, als erstes auf einer Karte stolz die Lage von Montalbano Elicona auf Sizilien erklärt wird, was aufgrund der geringen Größe von Montalbano Elicona aber leider im Ungefähren bleibt. (Zu Hause habe ich dann versucht, etwas mehr über den Ort und seine Lage in Erfahrung zu bringen. Montalbano Elicona ist eine kleine Gemeinde in der Nähe der Metropolitanstadt Messina in der Region Sizilien. Der Ort zählt heute knapp 2300 Einwohner und liegt ca. 100 km westlich von Messina).

Auf meine Bitte hin, mir zu schildern, wie es dazu kam, dass Giuseppe F. sich bei den deutschen Anwerbebehörden registrieren ließ und was er danach erlebte, begann er seiner Erzählung.

Der Italiener Giuseppe F., der mittlere Sohn von insgesamt drei Kindern, war knapp zwanzig Jahre alt und wie die meisten seiner Altersgenossen in seinem Dorf arbeitslos. Die Lage auf dem sizilianischen Arbeitsmarkt war nicht neu und es bestand überhaupt keine Aussicht, dass sich kurzfristig etwas zu Gunsten der Menschen in diesem Dorf oder in anderen Dörfern Siziliens ändern würde. Irgendwann zu Beginn der 1960er Jahre hatte es sich bis Montalbano Elicona herumgesprochen, dass deutsche Unternehmen italienische Arbeitskräfte, auch ungelernte, für den deutschen Arbeitsmarkt anwarben.

Eines Tages beschloss Giuseppe F., wie schon sein jüngerer Bruder zuvor, sich bei der zuständigen Anwerbebehörde in Messina zu bewerben und einen Antrag zu stellen. Er musste nicht lange warten und bekam die Nachricht mit der schriftlichen Aufforderung, sich in Neapel zu einer gründlichen medizinischen Untersuchung einzufinden und sich bei positivem Befund zur Ausreise bereitzuhalten. Nach der erfolgten und bestandenen medizinischen Untersuchung ging alles sehr schnell. Ehe sich der junge Mann versah, fand er sich im Nachtzug von Neapel nach Deutschland wieder.

Giuseppe, der in seinem Dorf zwar die Volksschule besucht hatte, aber darüber hinaus nie die Chance gehabt hatte, einen Beruf zu erlernen und kein Wort Deutsch sprach, saß also mit vielen Altersgenossen in einem Zug. Vor ihm lag eine ungewisse Zukunft und in der Hand hielt er ein Heft mit deutschen Redewendungen. Es war eine Broschüre, die man an alle Angeworbenen vor der Abreise verteilt hatte. Und so paukte Giuseppe auf einer endlosen Zugreise von Neapel nach Hagen in Westfalen seine ersten deutschen Vokabeln: Guten Tag, Guten Abend, Auf Wiedersehen. Das Pauken der Vokabeln sollte sich in den ersten Tagen in seiner neuen Heimat als durchaus positiv herausstellen. Schon am Tag seiner Ankunft in Siegen, als die Reisenden von Mitarbeitern der Bahn am Siegener Bahnhof in Empfang genommen wurden, durfte er als „Hilfs-Dolmetscher“ tätig werden, da keine offiziellen Dolmetscher anwesend waren.

 gastarbeiterzug ullstein 00548045Giuseppe hatte das Glück und war mit einigen anderen Italienern der Deutschen Bundesbahn zugeteilt worden, wo er zunächst bei der Reinigung von Waggons eingesetzt wurde, ein Jahr später wechselte er zu der Lokreinigung. Er und seine ausschließlich italienischen Arbeitskollegen erhielten an ihrem ersten Arbeitstag zwar eine kurze Einweisung, waren dann aber mehr oder weniger sich selbst überlassen.

Der Vorteil, bei der Bahn beschäftigt zu sein, bedeutete vor allem auch, dass die ausländischen Arbeitskräfte in Wohnungen untergebracht wurden, die der Bahn gehörten. Giuseppes Beschreibung der Wohnung fällt knapp und sachlich aus, was wohl darin liegt, dass es nicht viel zu beschreiben gibt. In dem Haus, das in der Ziegeleistraße in Weidenau lag, waren nur Ausländer untergebracht, direkt daneben gab es ein weiteres Haus der Bahn, in dem nur Deutsche wohnten. Seine „Wohnung“, so beschreibt er es, bestand aus einem etwa 12 m² großen, fensterlosen Zimmer, in dem vier Personen schliefen. Es gab kein Bad, nur eine Toilette. Die einzige Küche teilten sich ca. 16 Personen. Nach einer kleinen Weile setzt er dann nachdenklich hinzu, dass es doch sehr oft schmutzig und unordentlich gewesen sei.

Auf die Frage, ob es Probleme mit den Arbeitskollegen oder Vorgesetzen gegeben habe, sagt er, dass die Arbeitskollegen anfangs nicht immer freundlich gewesen waren, aber größere Schwierigkeiten hatte es nicht gegeben. Das größte Problem sei die Sprache gewesen. Sprachkurse, wie wir sie heute kennen, wurden erst sehr viel später von der Caritas angeboten und auch Sozialarbeiter waren noch nicht tätig. So wurden die Caritas und vor allem auch die Betriebsräte in den Unternehmen zur ersten Anlaufstelle bei Problemen. Und Probleme gab es in vielerlei Hinsicht. So brauchten die fremden Arbeitskräfte z.B. Hilfestellung beim Ausfüllen von Formularen. Wer einmal ein Formular in einer fremden Sprache in der Hand hatte, weiß, welche Schwierigkeiten dabei auf einen zukommen können.

Zunächst lebte Giuseppe zwei Jahre alleine in Weidenau, dann beschloss er nach Hause zurückzukehren, mit dem Vorsatz, seine Verlobte im fernen Montalbano di Elicona zu heiraten. Nach der Hochzeit wollte er dann entscheiden, ob er zurück nach Deutschland ziehen oder doch in Montalbano bleiben wollte. Giuseppe trat den weiten Rückweg nach Sizilien an, wo er und seine Verlobte Antonina, genannt Nina, heirateten. Elf Monate blieben sie in Montalbano Elicona, dann kehrten sie gemeinsam zurück nach Deutschland. Aber nicht allein, sondern beide sollten sich schon bald über Familienzuwachs freuen - ihren ersten Sohn.

Zurückgekehrt nach Weidenau hatte Giuseppe Glück und wurde erneut bei der Deutschen Bundesbahn in Kreuztal als Rangierer eingestellt. Giuseppe arbeitete hart, um die kleine Familie zu ernähren. Bald brauchten sie eine größere Wohnung, erneuter Familienzuwachs stand bevor. Aber es war nicht einfach, für eine junge Familie passenden und bezahlbaren Wohnraum zu finden. Sie zogen mehrmals um, zuerst in Weidenau, dann nach Siegen und seit 1980 wohnen sie in ihrem eigenen Haus. Nina, die in Sizilien mit vier Geschwistern aufgewachsen war, war ganz Hausfrau und Mutter, leitete den Haushalt, der nach Ankunft des dritten Kindes, weiter gewachsen war und zu dem inzwischen auch Giuseppes betagte Mutter gehörte, die sie zu sich geholt hatten. Wann immer Nina Zeit fand (meistens abends), nähte sie für die Familie, vor allem für die Kinder und manchmal auch für sich. Sie hatte sich nach ihrer Ankunft aus Italien schnell in ihrer neuen Heimat eingelebt. Obwohl auch Nina zunächst kein Wort Deutsch sprach, hatte sie dennoch keine größeren Schwierigkeiten im Alltag und wenn es Probleme gab, so wusste sie Giuseppe an ihrer Seite.

Unterstützung und Rat gab es aber auch und vor allem von kirchlicher Seite. Mittelpunkt für die ausländischen Gastarbeiter in Weidenau und Umgebung wurde die Pfarrkirche St. Joseph in der Weidenauer Straße 28, wo sich die italienische Gemeinde aus Siegen und Umgebung regelmäßig traf. Dabei hatte die Kirche in Deutschland ganz allgemein ein Problem: Sie war auf die Einwanderung schlecht oder gar nicht vorbereitet. So wurden zunächst ausländische Seelsorger in die Regionen beordert, die aber nur als Kaplan des deutschen Pfarrers vor Ort tätig sein durften. Sie waren praktisch „Missionare“, an die die unterschiedlichsten Sorgen und Probleme herangetragen wurden, und die Pfarrer mussten versuchen, in der neuen Umgebung eine Lösung für die Probleme der Bittsteller zu finden. Problematisch war auch, dass sich ein Pfarrer um drei Gemeinden gleichzeitig kümmern musste, nämlich Hagen, Attendorn und Siegen.

Giuseppe und Nina erinnern sich gerne an die Kirchenbesuche und die Treffen danach, denn bei diesen Treffen wurden regelmäßig Filme auf Italienisch gezeigt. So genoss man nicht nur das Beisammensein im Kreis von Bekannten und Freunden, sondern auch das „Wiedersehen“ mit einem Stückchen Heimat - und sei es nur im Film.

Schwieriger wurden die Zeiten ab Mitte der 1960er Jahre, als die Anzeichen des allgemeinen wirtschaftlichen Abschwungs zunahmen. Es kam zu ersten Entlassungen und Einstellungsstopps. Auch bei der Bahn kam es zu Rationalisierungen und Umstrukturierungen, so dass es passieren konnte, dass Arbeiter zwar nicht entlassen, aber in weit entfernte Orte versetzt wurden. Auch für Giuseppe begann eine unruhigere Zeit, geprägt von häufigen Stellenwechseln, wobei er buchstäblich jede Arbeit annahm: vom Bäckereifahrer bis zum Schweißer.

th9Nina fand, nachdem ihre Kinder längst erwachsen waren und das Siegerland verlassen hatten, eine ganz neue Herausforderung. Sie erwarb alle Lizenzen als Übungsleiterin für Orthopädie, Diabetes, Neurologie und Wassergymnastik in einem Sportverein. So trainiert sie seit 1989 täglich ihre Gruppen bis auf einen freien Abend in der Woche.

Auf meine Frage, ob beide jemals mit dem Gedanken gespielt hätten, nach Italien zurück zu kehren, sind sie sich vollkommen einig. Ihre Antwort lautet „nein“. Ja, sie hätten natürlich in der ersten Zeit manchmal Heimweh gehabt (Giuseppe nicht, nur Nina). Aber wirklich wieder zurück hätten sie nicht gewollt, auch ihre drei Kinder nicht, die bis auf eine Tochter nach ihrem Studium weit verstreut in Deutschland leben. Sie hätten die alte Heimat immer wunderschön im Urlaub gefunden, den sie auch heute noch gern dort verbringen, aber wirklich dort wieder leben, möchten sie nicht. Ihr Zuhause ist schon lange Siegen.

(2017)

 

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