von Jelena Simmer

15. Februar 1965. Montagmorgen, Viertel nach Fünf.
Es ist kalt und Werner fröstelt. Er ist auf dem Weg zur Bushaltestelle und sehr müde. Wenn ihn seine Frau nicht jeden Morgen wecken würde, käme er immer unpünktlich. Während er durch das Dorf geht, gesellen sich nach und nach seine Arbeitskollegen zu ihm. Gemeinsam warten sie bei der Bushaltestelle an der Hauptstraße auf den Bus, der sie nach Biersdorf an den „Fuss“, die Grube Füsseberg“ bringt. Um halb sechs ist es soweit und die Bergmänner steigen ein.

Im Bus macht sich Werner so seine Gedanken. Er hat vor zwei Wochen erfahren, dass die Grube geschlossen werden soll. Doch er hat nichts anderes gelernt, als Bergmann zu sein. Nach seiner Schulausbildung gab es nicht viele Firmen in der Daadener Region, bei denen man eine Ausbildung machen konnte. Die Grube war gut zu erreichen und es gab auch einen sehr guten Lohn, zumindest im Vergleich zu anderen Arbeitgebern. Doch nun muss er sich etwas anderes suchen, um seine Frau und seine zwei Kinder zu ernähren. Beide Kinder gehen noch in die Schule und können noch keine Ausbildung machen. Werner hatte schon in Daaden bei Muhr und Bender und anderen Firmen in Betzdorf angefragt, doch bis jetzt war noch keine Antwort gekommen.

„Hallo Werner? Wir sind da“, wird er von Herbert, einem Kumpel, aus seinen Gedanken gerissen. Werner rappelt sich benommen von seinem Sitz hoch und steigt aus dem Bus. Er geht jedoch noch nicht sofort in die Grube, sondern ins Waschhaus gegenüber des Grubeneingangs. Werner sucht die Kette mit der Nummer 213. Als er sie gefunden hat, macht er die Kette, an der seine Nummer hängt, los und lässt sein Arbeitsmaterial herunter. Jeder Kumpel hat seine eigene Kette, an der die Kleidung hängt. Als er sich dann umgezogen hat, befestigt er seine Alltagskleidung an den Haken und zieht sie nach oben. In seiner Arbeitskleidung und mit seiner Grubenlampe, die die gleiche Nummer hat, geht es hinüber zum Grubeneingang. Dort bekommt Werner die Marke 33 für diesen Tag. Er geht als 33. in die Grube und zum Schichtende darf er sie als 33. auch wieder verlassen. Dies ist die einzige Möglichkeit um zu sehen, ob alle die Grube verlassen haben.
Bevor die Kumpel aber nach unten können, wird erst noch einmal überprüft, ob noch genug Karbid in den Lampen ist und ob jeder sein Feuerzeug dabei und gefüllt hat. Alles ist in Ordnung. Zusammen mit drei Kollegen zwängt sich Werner in den Korb, der sie dann auf 610 Meter Tiefe bringen soll. Dieser Korb hat zwei Etagen und sobald beide voll sind, geht es mit sechs bis acht Metern in der Sekunde in die Tiefe.
Auf 610 stoppt der Korb und Werner sowie seine Kumpel machen sich auf den Weg zu ihrem Stollen. Zusammen mit dem Meisterhauer Dieter aus Daaden gehen sie durch die Sohle zu ihrem Abbaugebiet. Jede Sohle und jeder Schacht ist mit Holzbalken gestützt und Wasser-, Druckluft- und Elektroleitungen sind unter den Holzbalken befestigt. Um weiter abwärts zu kommen, müssen die Kumpel die „Fahrten“ (Leitern) benutzen. Werner klettert als Erster.
Doch dann hört plötzlich die Leiter auf. „Fahrt hört auf“, schreit er nach oben. Dieter der Meisterhauer ruft sofort zurück, dass er springen soll. Fragend schaut Werner nach oben. Seine Kumpel nicken ihm zu. Ihnen ist die Erleichterung ins Gesicht geschrieben, dass sie nicht als Erste haben klettern müssen. Langsam hangelt sich Werner bis zur letzten Sprosse, schließt die Augen und lässt sich fallen.
Der Sturz ist nicht lang; er kommt ihm jedoch wie eine Ewigkeit vor. Werner kommt zwar unsanft, aber unverletzt auf dem kalten Stein auf. Die Lampe ist ausgegangen. Da sein Feuerzeug funktioniert, hat er kein Problem, sie schnell wieder zu entzünden. „Alles in Ordnung?“, kommt die bange Frage von oben. „Ja, es sind nur etwa zweieinhalb Meter, ihr könnt nachkommen.“ Eine Weile hört Werner nur ein Murmeln, dann schreit der Meisterhauer hinunter: „Werner, wir springen nicht, such du erst einmal eine Leiter.“ Werner muss grinsen. „Alles klar“, brüllt er. Langsam geht er in den Gang.
Wenn er zwei Meter weiter rechts aufgekommen wäre, hätte er ein weiteres Loch nach unten erwischt. „Das hätte ich wohl nicht überlebt“, überlegt er schaudernd. Ein paar Meter weiter im Gang findet er eine Leiter. Er wundert sich, wie sie da hingekommen ist, dann wuchtet er sie auf seine Schulter und macht sich zurück auf den Weg zu seinen Kumpels. Nachdem er die Leiter auf den Boden gestellt hat, klettern die anderen herunter und weiter geht es. Drei weitere Kumpel trennen sich von ihnen, um in einen anderen Stollen zu gehen. Noch etwa 20 Minuten brauchen sie, bis sie an ihrer Förderstelle ankommen.
„Die Nachtschicht hat gute Arbeit geleistet“, geht es Werner durch den Kopf. Die Schienenbauer haben in der Nacht die Schiene für die Loren, die Wagen für die Eisenbahn, bis kurz vor das Stollenende weitergelegt und die Druckluft- und Wasserschläuche für die Bohrer weiter durch den Stollen gezogen. Auch die Schüttelrutsche fürs Gestein wurde verlängert.

Als erstes schließt der Meisterhauer den Sprengstoff, den er zuvor im Hauptbüro besorgt hat, in eine Kiste ein. Nur er bekam den Schlüssel und er hatte die alleinige Verantwortung dafür. Er verdient auch mehr Geld, aber Werner ist mit seinem Verdienst zufrieden. Seine Familie würde auch nie zulassen, dass er für die Sprengungen zuständig wäre. Seine Frau hat schon jetzt Angst um ihn, aber mit seinem Tagesverdienst von 15 DM verdient er besser als ein einfacher Schlosser.
„Auf geht’s!“, ruft Harald, sein guter Freund, schlägt ihm auf die Schulter und läuft vor. Werner hatte Harald in der Ausbildung kennen gelernt; seitdem sind sie oft zusammen eingeteilt. Sie machen sich an die Arbeit. Die beiden stellen ihre Grubenlampen ab und beratschlagen, welche Bohrstange sie als erstes verwenden sollen. Sie entscheiden sich dann für eine mit einem breiten Bohrkopf, um erst einmal eine Vertiefung ins Gestein zu bringen, in der ein anderer Bohrkopf Halt finden kann. Als Nächstes peilt Harald als gelernter Markscheider die Richtung an und Werner beginnt zu bohren. „Ein Glück, dass wir nicht mehr trocken bohren“, schreit Harald ihm über den Bohrlärm entgegen. Werner nickt nur.
Ja, die Arbeitsbedingungen haben sich verbessert. Sie haben inzwischen sogar Schutzhelme und auch teilweise elektrische Lampen an ihren Helmen. Die Batterie trägt man auf dem Rücken. Ebenfalls können sich die Arbeiter nicht mehr über eine Staublunge beschweren, da der entstehende Staub durch Wasser, das durch die Bohrstange läuft, direkt wieder gebunden wird. Sein Großvater hatte noch trocken gebohrt und oft erzählt, dass sie vor Staub kaum etwas gesehen hätten, nicht den Stein und noch weniger die Kumpel. Inzwischen ist die Arbeit zwar sauber, wobei man jetzt ziemlich nass werden konnte. Werner erinnert sich daran, dass er einmal so durchnässt war, dass er angefragt hatte, früher aus der Grube gelassen zu werden. Doch er hatte warten müssen, bis er dran kam. Danach hatte er eine Erkältung bekommen, da es nicht nur nass, sondern auch kalt und zugig gewesen war. Doch mit dem Luftzug haben sie hier am „Fuss“ noch Glück. Das „Wetter“ zog bei ihnen aus dem Stollen heraus, das hieß, die Luft war schon verbraucht und warm. Die Grube Friedrich Wilhelm in Herdorf hat einen einziehenden Wetterschacht. Im Winter konnte es daher dazu kommen, dass sich noch in 300 Meter Tiefe Eiszapfen bildeten. Die beiden Gruben waren auf 672 miteinander verbunden worden.
„Werner, pass auf!“, schreit da plötzlich Harald, „Wo bist du bloß mit deinen Gedanken?“ Werner zuckt zusammen. „Entschuldigung“, meint er dann kopfschüttelnd und konzentriert sich wieder auf den Bohrer, der ihm fast aus der kleinen Vertiefung gesprungen wäre.
Hier unten muss man unbedingt wachsam sein. Wenn man sich nicht genau auf seinen Kumpel verlassen kann und nicht die Umgebung beobachtet, kann das zu schweren Verletzungen und nicht zuletzt zum Tod führen.
Werner will sich nun wieder auf seine Arbeit konzentrieren und auch nicht mehr an die mögliche Arbeitslosigkeit denken, die ihn schon den ganzen Tag bedrückt. Als sie die kleinen Bohrlöcher gebohrt haben, nehmen sie die längste Bohrstange, die sie haben. Sie hat eine Länge von 2,20 Metern. Den Bohrer stellt Werner auf eine Bohrsäule und dann wird weiter gebohrt. Dieter, ihr Meisterhauer und somit ihr Vorgesetzte, überwacht die Arbeit. Während Harald und Werner bohren, schafft Dieter liegengebliebenes Gestein auf die Schüttelrutsche. Diese Arbeit ist körperlich sehr anstrengend, wie jede Arbeit in den Stollen.

Werner denkt an seine Anfangszeit zurück. Schon wenn man mit seiner Lehre anfing, bekam man einen Eindruck von schmerzhafter Arbeit. Als Lehrling wurde man die ersten Monate an die Laufbänder gestellt und musste dann totes Gestein aussortieren. Das Lesband war zwölf Meter lang an dem acht bis zwölf Jungen standen. Bei dieser Arbeit musste man sich sehr konzentrieren und man musste die scharfen Steine mit den bloßen Händen anfassen. Nach einigen Tagen hatte man zerrissene Hände, die überall brannten. Doch im Gegensatz zu den Stollen war die Arbeit an den Laufbändern zwar blutiger, aber nicht so kräfteraubend gewesen.
Langsam kommen Werner und Harald weiter. In den Gruben verlieren sie jegliches Zeitgefühl. Ein Loch nach dem anderen wird gebohrt. Dabei ist es wichtig, dass die Bohrungen so angebracht werden, dass später ein Torbogen entsteht. Dieser Bogen ist wichtig für die Stabilität. Auch in den Boden werden Löcher gebohrt. Diese jedoch sind nicht senkrecht, sondern leicht schräg. Die Sprengladungen lassen den Boden dann so aufbrechen, dass er eine Art grober Schotter wird, in den die Schienenbauer Schwellen und Schienen verlegen können.
Nach den ersten acht Bohrlöchern kommt der Sprengmeister zu ihnen und ruft sie zur Pause. Es ist schon zehn Uhr und die Männer dürfen eine viertel Stunde Pause machen. Die Kumpel setzen sich zusammen und packen ihre Brote und ihren Kaffee aus. Werners Frau ist großzügig gewesen und hat ihm sechs Brote mit Wurst eingepackt. Sie weiß eben, wie hungrig ihr Werner werden kann. Die Männer genießen die Pausen und reden über ihre Familien, machen Scherze und kauen auf ihren Broten herum.
Doch Werner ist nicht zum Scherzen zumute. Er kommt nicht von seinen trüben Gedanken los. Er braucht eine neue Arbeit. Aber er braucht auch eine Arbeit, bei der er gleichzeitig noch seine Landwirtschaft betreiben kann. Seine Familie produziert Heu und Getreide. Dazu hat sie auch noch zwei Ziegen, eine Kuh und ein paar Hühner. Die Tiere kann seine Frau gut alleine versorgen, aber bei der Feldarbeit braucht sie seine Hilfe. Im Frühling und im Spätsommer hatte immer die ganze Familie dabei geholfen, auszusähen und zu ernten. Und es hatte nie Probleme mit den Verantwortlichen der Grube gegeben und er hatte zur Not von einem auf den anderen Tag Urlaub bekommen. Was würde in Zukunft passieren? Könnte er noch weiter beides schaffen?

„Und, Werner, wie siehst du das?“, wird er von Dieter aus seinen Gedanken gerissen. „Wie, was denn?“, fragt Werner stotternd. Harald lacht und erklärt Dieter, dass Werner heute schon die ganze Schicht komisch ist. Werner seufzt und erklärt dann: „Ich mach mir Sorgen. Ich habe es noch nicht geschafft, eine neue Stelle zu bekommen und weiß nicht, wo ich noch fragen soll.“ Doch Dieter antwortet: „Ich habe gehört, dass Muhr und Bender sowie Krah in Niederdreisbach immer noch Arbeiter suchen. Mach dir keine Sorgen“, tröstet er ihn. Werner nickt: „Ich habe mich auch bei Muhr und Bender beworben, aber noch keine Antwort.“ „Die bekommst du schon noch.“, pflichtet Harald nun Dieter bei und nickt dabei aufmunternd. Die Männer schweigen eine Zeit.
„Oh, schon so spät“, entfährt es da Dieter, „wir müssen weiter machen, wenn wir nicht noch vorher gefeuert werden wollen“, meint er lachend.
Harald und Werner schmunzeln. Dann geht es wieder an die Bohrmaschine. Weitere sechs Löcher werden ins Gestein getrieben. Während Harald und Werner bohren, bereitet Dieter alles für die Sprengung vor. Er nimmt den Sprengstoff und die Zünder aus der Kiste. Der Sprengstoff ist 130 Millimeter lang und hat die Stärke eines Besenstiels. In ein Bohrloch passen 16 bis 18 Patronen. Als Vorletztes wird ein Zünder ins Loch gesteckt, als Letztes noch einmal Sprengstoff. Dieter benutzt gerne die Momentzünder - so auch dieses Mal. Nachdem das letzte Loch fertig gebohrt und die letzte Munition angebracht ist, legt Dieter die Sprengleitung. Diese Leitung darf nicht mit dem Gestein in Berührung kommen, sonst explodieren die Sprengsätze nicht.
Dieter befiehlt den beiden, sie sollen weit zurückgehen, er würde dann später zu ihnen kommen. Sie gehen ungefähr 80 Meter zurück in den Tunnel, dort bleiben sie stehen, um auf den Meisterhauer zu warten. „Hoffentlich stürzt nur das ein, was wir wirklich zum Einsturz bringen wollten“, murmelt Harald und grinst. Werner findet das nicht so lustig. Er ist zwar fast jeden Tag bei einer Sprengung dabei, doch ohne Bedenken ist er nie. So schnell kann man von herabstürzenden Brocken getroffen werden. Selbst wenn nur der Arm oder die Hand verstaucht ist, kann man mehrere Tage nicht arbeiten.
Dieter kommt auf sie zu und hängt weiter die Zündleitung auf. Doch er geht noch weiter zurück. Nach weiteren 20 Metern hält er an. Als Dieter ihnen zugenickt hat, halten sie sich wie auf Kommando die Ohren zu und machen den Mund weit auf. So baut man am besten den Druck ab, der durch die Sprengung entsteht. Dieter zählt von drei herunter auf null und löst elektrisch aus.
Sofort hören sie eine Explosion. Ein Grollen, der Boden wackelt und es kommt eine Staubwolke in den Stollen. Als sich der Staub etwas gelegt hat, machen sich die Männer wieder auf den Weg zum Sprengort. Sie sind mit kleinen Hämmern ausgestattet, mit denen sie das Gestein prüfen, an dem sie entlang gehen. Es kann nämlich immer passieren, dass sich durch die Erschütterungen weitere Steine aus der Decke oder den Wänden lösen konnte – eine weitere Sicherheitsmaßnahme, um das Leben der Kumpel zu beschützen. Ab und zu lösen sich ein paar kleine Steinchen aus der Decke, aber es sind keine bedenklich Großen.
Der Staub hat sich inzwischen ganz gelegt und die Männer sehen, was sie gesprengt haben. Dieter schlägt den beiden Männern auf die Schultern und ruft dann: „Gut gemacht, sieht ja toll aus.“ Werner und Harald allerdings lächeln eher gequält, denn sie denken an die Schlepperei, die jetzt auf sie wartet.
Harald holt die Schüttelrutsche herbei und die Männer beginnen mit Händen und Schaufeln, die kleinen und großen Gesteinsbrocken aufzuladen. Die Schüttelrutsche wird ebenfalls durch Luftdruck angetrieben und macht eine Menge Krach.
Von der Schüttelrutsche werden die Gesteinsbrocken in einen Schacht geschüttet. Dieser führt in den Hauptförderschacht. Die dort wartenden Kumpel und füllen das im Schacht steckende Gestein in Loren. Eine Lok, die durch Strom angetrieben wird, holt die Wagen ab. Auf ihrem Weg zu den Aufzügen müssen die Wagen mehrere Wetterschächte passieren. Damit es in den Stollen und Schächten nicht zu viel Zug gibt, ist jeder Wetterschacht durch eine Tür von den Stollen getrennt. Wenn der erste Wagen eine dieser Türen erreicht, überfährt er ein Signal und die Tür wird automatisch geöffnet. Nach den Wagen wird sie wieder geschlossen. So gelangen die Loren zu der Prescheanlage, wo das Gestein ausgeschüttet wird. Die leeren Wagen fahren wieder in den Stollen zurück.
Eine Zeit lang hatte Werner auf 486 die Eisenbahn fahren müssen. Das war eine gefährliche und schwierige Arbeit gewesen. Er hatte vor allem nie gelernt, eine solche Lok zu fahren. Er war einfach eingeteilt worden. Später hatte er sich wieder versetzen lassen und war seitdem im Abbau tätig.
Der Schuttberg ist fast bis zur Hälfte abgetragen, da sagt Dieter mit einem Blick auf die Uhr, sie könnten für heute Feierabend machen, da sie ja noch etwas Zeit bis zu den Aufzügen brauchen würden. Es ist halb zwei am Nachmittag. Die Männer packen ihre Lampen und ihre leeren Brotdosen ein und machen sich auf den Weg durch die dunklen Gänge. 20 Minuten später kommen sie zu den Aufzügen. Viele Männer strömen aus anderen Stollenteilen dorthin. Der Korb hält. Werner und seine beiden Kumpel drängen sich hinein. Dann wird erst drei mal und dann nochmal zwei mal geklopft. Die zwei Schläge zeigen an, dass sie nach oben wollen und die drei Schläge die Anzahl der Sohlen.
Sekunden später sind sie oben und gehen zum Büro, um ihre Marke abzugeben. Sie müssen allerdings noch warten, da die Männer mit den Nummern 31 und 32 noch nicht da sind. Alle gehen in der Reihenfolge aus der Grube, wie sie herein gekommen sind. So geht am Ende einer Schicht keiner verloren.

Endlich können auch Werner und die anderen ihre Marke abgeben. Es ist kurz nach zwei Uhr. Sie treten in gleißendes Sonnenlicht und die Männer müssen erst einmal blinzeln. Dieter verabschiedet sich vor dem Grubeneingang von den anderen beiden, denn er macht sich sofort auf den Weg nach Hause. Harald und Werner gehen allerdings hinüber zum Waschhaus, waschen sich und wechseln wieder die Kleidung. Ihre Arbeitskleidung kann nun über Nacht trocknen.
„Dann bis morgen“, ruft Harald Werner zu, bevor er aus dem Ausgang verschwindet. Werner ist kurze Zeit später fertig. Zusammen mit den Männern der Spätschicht verlässt er das Waschhaus, und geht hinüber zur Bushaltestelle. Fast gleichzeitig mit Werner kommt der Bus und es geht wieder zurück nach Niederdreisbach.

Eine halbe Stunde später steht er vor seiner Haustür, schließt auf und betritt das Haus. Aus der Küche hört er Geschirr klappern. „Hilda, ich bin zu Hause“, ruft er vom Flur aus. Das Geschirrlappern hört kurz auf und als Werner in die Küche kommt, begrüßt seine Frau ihn mit einem Lächeln. Auf dem Herd steht ein kleiner Topf. Als Werner den Deckel anhebt, duftet ihm ein Eintopf aus Gemüse, Kartoffeln und Rindfleisch. „Hmmm, das sieht aber lecker aus“, murmelt er und lächelt.
„Die Kinder sind draußen und spielen“, sagt Hilda, ohne ihre Hausarbeit zu unterbrechen. „Gut“, meint Werner, „ich muss sowieso mit dir reden“. Hilda sieht von ihrer Arbeit auf. „In Ordnung, ich setzte mich gleich zu dir, ich muss dir nämlich auch etwas sagen.“
Werner nickt, nimmt sich einen Teller aus dem Schrank und einen Löffel aus der Küchenkommode. Dann befördert er einen Großteil des Eintopfs auf seinen Teller und setzt sich auf die Eckbank an den Küchentisch. Er spricht leise ein kurzes Tischgebet und beginnt dann zu essen. Seine Frau hat inzwischen ihre Arbeit beendet und setzt sich zu ihm.
„Was wolltest du denn mit mir besprechen?“, fragt sie ihn. Werner kaut und schluckt dann. „Du weißt, die Grube macht Anfang April zu und ich muss eine Arbeit finden.“ Hilda nickt. „Ich muss aber eine Arbeit finden, mit der ich trotzdem noch die Landwirtschaft betreiben kann.“ Hilda nickt erneut. „Du wirst das nicht alleine schaffen, oder?“ „Nein.“, antwortet sie, aber sagt dann mit beruhigendem Ton: „Ich denke, das ist aber kein Problem, da viele Leute neben ihrer eigentlichen Arbeit Landwirtschaft betreiben. Die Firmen kennen das wahrscheinlich.“ „Meinst du?“, fragt Werner zweifelnd. Er sieht das nicht so optimistisch. Eine Weile denkt er nach. Auch seine Frau sitzt ruhig da.

Plötzlich springt sie auf. Werner zuckt zusammen und sieht sie erschreckt an. Doch seine Frau lächelt nur und berichtet: „Ich hab ganz vergessen, dir zu sagen, dass ich heute Morgen bei der Post war. Dort hatten sie einen Brief für dich. Ich hole ihn schnell.“ Mit dem Satz ist sie aus der Küche gelaufen, zu ihrer Handtasche. Kurze Zeit später kommt sie wieder zurück und legt den Brief auf den Küchentisch. Werner legt seinen Löffel beiseite und nimmt den Brief in die linke Hand. Mit der Rechten holt er ein kleines Taschenmesser aus seiner Hosentasche und benutzt es als Brieföffner. Langsam faltet er das Papier auseinander.
Er liest den Brief durch und seine Augen weiten sich. „Was steht denn in dem Brief?“, drängt Hilda gespannt. Sie ist in der Küche auf und ab gelaufen, während Werner gelesen hat.
„Das ist von Muhr und Bender“, klärt er sie auf: „Sie wollen mich kennenlernen und stellen mir eine Arbeit in Aussicht.“ Werner ist wie paralysiert. Hilda indessen lächelt wissend, als ob sie sagen wollte: Hab ich dir das nicht gesagt. Wie benommen steht Werner auf und lässt sich von seiner Frau umarmen. Beide freuen sich über die gute Nachricht. Werner will direkt einen Termin ausmachen und geht zum Telefon im Flur. Telefonieren ist zwar teuer, aber heute ist ihm das egal. Die trüben Gedanken, die ihn die letzten Wochen geplagt haben, sind mit einem Mal wie weggewischt. Zwar weiß er, dass die Einladung zum Gespräch noch kein fester Vertrag ist, aber er hat wieder Hoffnung, direkt nach der Schließung der Grube weiterarbeiten zu können.
Gleich der erste Verbindungsaufbau funktioniert und Werner macht einen Termin für den nächsten Tag aus.
„Ich muss mal die Tiere füttern“, lässt Hilda aus der Küche vernehmen. „Ich helfe dir“, ruft er zurück. Zusammen gehen sie in den Stall, wo zwei Ziegen und eine Kuh auf ihr Futter warten. Während Werner die großen Tiere füttert, geht seine Frau in den Garten, um im Freilaufgehege die Hühner zu versorgen.
Nach dem Füttern beginnt Werner damit, Holz zu spalten, um den Kamin im Wohnzimmer damit zu heizen. Wenn die Sonne verschwindet, wird es sofort kalt. Die Nächte sind ebenfalls noch sehr kalt. Ein warmer Kamin erwärmt das ganze Haus. „Wann kommen eigentlich die Kinder nach Hause?“, fragt er seine Frau, die das gespaltete Holz einsammelt. „Ich habe ihnen gesagt, sie sollen zu Hause sein, bevor es dunkel wird. Sie dürften wohl gleich hier sein.“, erklärt sie.
Als die beiden gerade mit ihrer Gartenarbeit fertig sind und hineingehen wollen, hören sie Fußgetrappel.
Walter und Sigrid kommen um die Ecke. Walter, der mit zwölf Jahren der ältere ist, erklärte seiner kleinen achtjährigen Schwester, warum er im Sommer einen Damm in den Bach bauen will. Dann sehen sie die Eltern. „Hallo Vater, hallo Mutter.“, grüßen beide wie aus einem Mund. Werner lächelt seine Kinder an und fragt dann gut gelaunt: „Habt ihr einen schönen Tag gehabt und euch benommen?“ „Ja“, verspricht Walter und nickt heftig. „Wir waren bei Helga und Ernst und haben im Garten gespielt“, ergänzt Sigrid. „Deswegen seht ihr auch so schmutzig aus“, meint Hilda lachend und scheucht ihre Kinder mit der Drohung ins Haus, nichts zum Abendbrot zu bekommen, wenn sie dreckig bleiben würden.
Nach etwa 20 Minuten kommen beide gewaschen und mit sauberer Kleidung in die Küche gerannt. Es ist viertel nach sieben und draußen ist es inzwischen dunkel. Hilda hat das Abendbrot schon auf den Tisch gebracht und gehorsam setzen sich die Kinder an den Küchentisch. Es gibt Brot und Wurst, Käse und eingemachtes Gemüse. Werner spricht das Tischgebet und die Familie beginnt zu essen. Während des Essens wird nicht viel geredet.
Als das Essen beendet ist, geht Werner mit seinen Kindern ins Wohnzimmer und Hilda macht den Abwasch. Als sie dann auch ins Wohnzimmer kommt, erzählt Werner gerade eine spannende Geschichte von seiner Arbeit. Die Kinder genießen diese Geschichten, aber wenn die zu Ende ist, wissen sie genau, dass für sie Schlafenszeit ist.
Als die Kinder dann eine halbe Stunde später im Bett sind, haben Werner und Hilda noch ein wenig Zeit für sich. Sie reden und genießen die Zeit, bevor sie um etwa 22 Uhr abends zu Bett gehen.