von Eva Beckmann

Sie leben in Spanien und Australien, Österreich und Kuwait, Kanada, Belgien, Laos und im Königreich Bahrain. Doch es verbindet sie eine gemeinsame Herkunft: Acht Menschen, die im Siegerland aufgewachsen sind und es für immer ihre Heimat nennen werden – einige mehr, andere weniger – erzählen, wie sich ihr Blick auf das Siegerland verändert hat und was ihnen ihre Heimat heute bedeutet. 

Oft erkennen wir doch erst im Kontrast zur Fremde, was tatsächlich die Kultur und den Charme unserer Heimat ausmacht, aber auch, was wir, ohne es bewusst wahrzunehmen, dort vielleicht immer vermisst haben. Was bewegt jemanden dazu, die Heimat zu verlassen? Und was kann Anlass sein, eines Tages womöglich doch zurückkehren zu wollen?
In diesem Beitrag will ich einen Blick darauf werfen, wie das Siegerland von denjenigen Menschen als Heimat wahrgenommen wird, die vom Ausland darauf zurückblicken. Auf diese Weise erkunde ich das Siegerland als einzigartigen Heimatort. Wie hebt es sich von anderen Plätzen auf dieser Welt ab? Was macht seinen persönlichen Charakter aus? Weil jeder Mensch seine Heimat anders wahrnimmt, werde ich acht individuelle Blickwinkel auf das Siegerland als Heimat beleuchten.

Was die eine am Siegerland schätzt und im Ausland vermisst, kann dabei für den anderen Anlass gewesen sein, auszuwandern. Doch am Ende entsteht ein authentisches Bild vom Siegerland, wie es nur dort beheimatete Menschen malen können.  Auf Wunsch der betreffenden Personen sind einige Namen in diesem Beitrag geändert worden. 

Markus Wolff ist 35 Jahre alt und kommt aus dem Siegener Stadtteil Eiserfeld. Im Oktober 2015 ist er mit 34 Jahren als Entwicklungshelfer im Landnutzungs- und Landrechtesektor  in die Demokratische Republik Laos gezogen, nachdem er bereits 2003 das Siegerland verlassen hatte, um in Göttingen zu studieren und später in Witzenhausen zu arbeiten. Mit dem Umzug nach Laos hat Markus Wolff seinen Wunsch verwirklicht, in der Entwicklungszusammenarbeit tätig zu sein. Er ist sich sicher, irgendwann zurück nach Deutschland ziehen zu wollen, jedoch sei das Siegerland aufgrund mangelnder beruflicher Perspektiven keine Option für ihn. Hinzu kommt, dass er sich nach 13 Jahren Abstand von der Heimat nur schwer vorstellen könne, wieder dauerhaft in Siegen zu leben. 

Cora Garcia Sánchez zog mit 27 Jahren ihren spanischen Wurzeln folgend von Siegen nach Estepona in Spanien. Dort lebt und arbeitet sie nun bereits seit acht Jahren. Dennoch sagt sie, dass Siegen, ebenso wie Estepona, immer ihre Heimat bleiben werde. Die Möglichkeit, zurück ins Siegerland zu ziehen, sieht sie als Sicherheit, falls sie in Spanien mit finanziellen Schwierigkeiten konfrontiert wird.

Carmen Redgrave ist vor fast 16 Jahren von Siegen nach Shellharbour in Australien gezogen, wo sie heute mit ihrer Tochter lebt. Damals war sie 33 Jahre alt und kam allein. Seitdem besucht sie etwa alle zwei Jahre ihre Mutter und Freunde in Siegen und zeigt ihrer Tochter bei diesen Gelegenheiten gern die Heimat ihrer Jugend. Obwohl sie ihre Heimat als Kind gehasst habe und es ihr manchmal schwerfalle, sich auf ihren Besuchen für ein paar Wochen wieder in der Heimat einzuleben, wolle sie gern einmal nach Siegen zurückziehen, da sie dort bessere soziale Kontakte habe. 

Die 29jährige Katharina Hennes zog 2013 aus Netphen-Eschenbach nach München und lebte und arbeitete anschließend zwei Jahre im Westerwald, bevor sie mit 28 Jahren einem attraktiven Stellenangebot folgte und nach Aurolzmünster in Österreich zog. Derzeit kann sie sich gut vorstellen, einmal zurück ins Siegerland zu ziehen, vor allem, weil dort ihre Familie lebt und viele ihrer Freunde ebenfalls in der näheren Umgebung wohnen. 

Jens Bender ist in Siegen aufgewachsen und hat dort bis zum Ende seines Zivildienstes gelebt. Im Alter von 33 Jahren zog der inzwischen 40jährige das erste Mal ins Ausland. Zuerst lebte er in Salzburg, zwei Jahre später zog er nach Florenz und mit 36 Jahren zog er schließlich nach Kairo, wo er bis Februar dieses Jahres lebte und als Langzeitdozent des DAAD Politik- wissenschaft an der Cairo University lehrte. Derzeit wohnt er für voraussichtlich zwei Jahre in Brüssel. Mehrmals im Jahr kommt er zu Besuch in seine Heimat zurück, zieht eine längerfristige Rückkehr ins Siegerland jedoch derzeit weder in Erwägung noch schließt er sie völlig aus.  

Die 59jährige Katharina Dannenberg ist vor 30 Jahren mit ihrem dreijährigen Sohn und ihrem Deutsch-Kanadischen Ehemann nach Toronto gezogen und besucht zweimal im Jahr Familie und Freunde in Deutschland. Sie ist in Siegen aufgewachsen und hat zwischenzeitlich in Berlin gewohnt. Obwohl sie inzwischen seit sehr langer Zeit in Kanada lebt, berichtet sie von ernsthaften Plänen zurück nach Deutschland zu ziehen. In ihre alte Heimatstadt Siegen wolle sie jedoch nicht zurück, da diese zu klein und eng sei und auch ihre Familie in verschiedenen anderen Städten in Deutschland lebe.  

Renate Birkholz zog mit 32 Jahren aus Burbach, wo sie aufgewachsen war, nach Dubai und vier Jahre später weiter nach Kuwait, wo sie nun seit 16 Jahren als freischaffende Architektin lebt. Weil sie durch die lange Zeit im Ausland zunehmend das Gefühl bekommt, sich von der Heimat zu entfremden, kann sie sich eher nicht vorstellen, nach Deutschland zurückzukehren. Ihr letzter Heimatbesuch liegt inzwischen fast fünfzehn Jahre zurück, jedoch fühlt sie ihren Bezug zum Siegerland durch familiäre und freundschaftliche Beziehungen noch immer. 

Der 45jährige Jan-Georg Münker lebt jetzt zum zweiten Mal im Königreich Bahrain, nach- dem er 2005 zuerst von Siegen nach Dubai gezogen war und zwei Jahre später zum ersten Mal nach Bahrain zog. 2010 wohnte er jedoch erst in Abu Dhabi und anschießend in Saudi Arabien, bevor er wieder ins Königreich Bahrain zurückkehrte, wo er jetzt gemeinsam mit einem einheimischen Geschäftspartner seine eigene Ingenieurfirma leitet. Die Rückkehr ins Siegerland sei für ihn ausgeschlossen, da er es als verschlossen und weltfremd erlebt habe. 

Die Beschreibungen der Auswanderer von ihrer Heimat ähneln sich in vielen Aspekten, ob- wohl sie vieles verschieden wahrnehmen. Um mit ihrer Heimat in Verbindung zu bleiben, beschreiben die Auswanderer, dass sie regelmäßig Radio Siegen hören oder Mitglied von Facebook-Gruppen sind, in denen sie über Neuigkeiten aus dem Siegerland auf dem Laufenden gehalten werden. Aber auch der Kontakt zu Familie und Freunden in der Heimat gibt ihnen einen Bezug zum Siegerland, obwohl sie ihren Alltag heute im Ausland erleben. Das Gefühl von Heimat wird zusätzlich dadurch bestärkt, dass die Auswanderer sich dort trotz langer Abwesenheit auskennen und durch bestimmte Orte an ihre Jugend erinnert werden. Stolz erzählen sie Freunden und Bekannten im Ausland zum Beispiel von der schönen Landschaft, den Sehenswürdigkeiten, wie zum Beispiel dem Museum für Gegenwartskunst oder dem Apollo-Theater, aber auch von mit Siegen verbundenen Berühmtheiten wie Peter Paul Rubens. 
Auffällig ist, dass viele der Auswanderer als „typisch deutsch“ charakterisierte Werte wie Ordnung und Pünktlichkeit anführen, wenn sie von ihrer Heimat erzählen. Das mag zwar zum Teil daran liegen, dass die Auswanderer nicht nur das Siegerland, sondern auch Deutschland verlassen haben, kann aber ebenso Hinweis darauf sein, dass diese Werte im Siegerland besonders ausgiebig gelebt werden. Auf die Frage, wie ihre Heimat sie geprägt habe, antwortet Katharina Dannenberg beispielsweise, sie sei „einfach 50% deutsch: Ernst, tiefgängig, forsch, tatkräftig, gründlich“. 
Darüber hinaus schätzen und vermissen die ausgewanderten Siegerländer aber auch typisch deutsche Traditionen, insbesondere in Bezug auf die Esskultur. Besonders häufig wird in diesem Zusammenhang das Schwarzbrot erwähnt, aber auch Traditionen wie das Kaffeetrinken oder die Siegerländer Küche generell werden gelobt.  Obwohl die meisten der Auswanderer aus der Großstadt Siegen kommen, ist die Wahrnehmung ihrer Heimat überwiegend von einem dörflichen oder kleinstädtischen Bild geprägt. Das liegt zum Teil an der von Natur beherrschten Landschaft, jedoch auch an der Mentalität der Menschen.
Jens Bender beschreibt diese Art der Abgeschiedenheit gleichzeitig als Vor- und Nachteil und auch Katharina Dannenberg nimmt sie sowohl als gemütlich als auch als einengend wahr.  Durch die naturnahe und vom Wald geprägte Landschaft des Siegerlandes erlebten die Auswanderer es in ihrer Kindheit als Abenteuerspielplatz. Als sie älter wurden, fühlten viele von ihnen sich jedoch in ihrer Abenteuerlust gebremst, weil sie die Mentalität der Siegerländer als einengend und bedrückend empfanden. Sie beschreiben eine den Siegerländern eigene Sturheit und kleinstädtische Engstirnigkeit. Jan-Georg Münker geht sogar so weit, den typischen Siegerländer als „weltfremd“ und „nicht gastfreundlich“ zu beschreiben und nahm diesen Eindruck zum Anlass, ins Ausland zu ziehen, wo er einer vergleichsweise größeren Offenheit begegnete. Im Gegensatz dazu beschreibt Carmen Redgrave, dass sie die Siegener als viel aufgeschlossener wahrnehme, seitdem sie ihre Heimat verlassen habe und auch die Kultur des Siegerlandes erst erkenne und zu schätzen wisse, seit sie in Australien lebe.  
Viel Bedeutung messen die Auswanderer außerdem dem Siegerländer Dialekt bei. Während Katharina Hennes bedauert, dass er zunehmend verloren gehe, ist er für Cora Garcia Sánchez ein Relikt ihrer Heimat, das ihr in Spanien erhalten bleibt.  
Die meisten Auswanderer haben einen insgesamt positiveren Blick auf ihre Heimat gewonnen, seitdem sie diese verlassen haben. So weiß Jens Bender jetzt beispielsweise die gute Luft zu schätzen, mit der das Siegerland im Vergleich zu Kairo durch die viele Natur besonders aufwarten kann. Auch Cora Garcia Sánchez beschreibt, dass ihre Heimat im Rückblick betrachtet viele Vorteile hat, die erst im Kontrast zu ihrem neuen Zuhause offensichtlich wer- den: Sie bevorzuge zwar das spanische Wetter, müsse jedoch feststellen, dass die Arbeitsbe- dingungen in ihrer deutschen Heimat wesentlich angenehmer seien.  Für die Auswanderer ist das Siegerland nicht ihre einzige Heimat geblieben. Doch als der Ort, an dem sie ihre Kindheit und Jugend verbracht haben, ist es unersetzlich. Obwohl viele der ausgewanderten Siegerländer die Mentalität in ihrer Heimatregion als widerwillig gegenüber Veränderungen wahrnehmen, kann sich auch das Siegerland nicht vor den Veränderungen, die die Zeit mit sich bringt, verstecken, und so bleibt es spannend, ob die heutige Siegerländer Jugend ihre Heimat einmal ähnlich wahrnehmen wird und wie sich das Siegerland als Heimat zukünftig entwickeln wird.

(2017)