von Marco Schneider

"Wilder Schulstreik – Schülerinnen des Siegener Lyzeums probten heute morgen den Aufstand – Rädelsführer der Schulunruhen von der Polizei festgenommen“, schrieb die Siegener Zeitung am 24. Oktober 1969. Zuvor hatten sich scheinbar undenkbare Vorkommnisse am damaligen Mädchengymnasium der Stadt Siegen ereignet: Schülerinnen der oberen Klassenstufen weigerten sich, die Klassenräume zu betreten und boykottierten den Unterricht. Doch was war zuvor geschehen? Und wie gestaltete sich der Siegener Schulstreik, in dessen Verlauf die Direktorin des Lyzeums zurücktrat und ein geordneter Unterricht am Mädchengymnasium für nahezu eine Woche nicht mehr möglich war?

Konfrontiert mit veralteten Schulstrukturen, autoritärem Unterricht und antiquierten und undifferenzierten Unterrichtsinhalten, waren viele Schülerinnen des Siegener Mädchengymnasiums schon seit längerer Zeit mit ihrer Schule unzufrieden. Hinter vorgehaltener Hand sollen nach Siegen Zugezogene sogar davor gewarnt worden sein, ihre Töchter auf das Mädchengymnasium der Stadt zu schicken. Der eigentliche Auslöser für den Schulstreik ereignete sich dann Ende Oktober 1969: In einem Flugblatt vom 23. Oktober warfen die Mädchen der Schule ihrer Direktorin dabei vor, elitäres Denken am Lyzeum zu erzeugen, „Intoleranz bei der Beurteilung von Schülerinnen“ (SN) an den Tag zu legen sowie die Persönlichkeitsbildung der Mädchen zugunsten von „Gedächtnisschulung“ (SN) zu vernachlässigen. Gleichzeitig betonten die Schülerinnen aber, „mit fundierter Kritik, nicht mit Emotionen“ (SN) für Reformen an ihrer Schule sorgen zu wollen. Am Morgen des 23. Oktober versammelten sich auf besagtes Flugblatt hin einige Schülerinnen auf dem Schulhof des „Lyz“; ein Streik schien dabei noch nicht beabsichtigt gewesen zu sein. Als die Direktorin des Gymnasiums, Frau Ursula Erfurt, jedoch eine Schülerin aus dem Pulk der Mädchen herausnahm und diese vermeintliche Anführerin der Versammlung in ihr Büro führte, wo sie ihr mit der Einleitung eines Disziplinarverfahrens gedroht haben soll, kam die eigentliche Entwicklung ins Rollen: nicht nur, dass die Stimmung bei den Mädchen zusätzlich angeheizt wurde; die Anwesenheit mehrer Schüler des damaligen Jungengymnasiums der Stadt Siegen, die sich mit den Zielen der Gymnasiastinnen solidarisch zeigten, sowie Mitglieder des „Republikanischen Clubs“, einer Gruppierung, die sich für Reformen in Schule, Universität und der Gesellschaft der noch relativ jungen Bundesrepublik aussprach, trug ebenfalls nicht zur Entspannung der Situation bei. In einem nun eiligst verteilten Flugblatt wurde dann offen zum Streik gegen die Direktorin und ihr autoritäres Verhalten aufgerufen. Schülerinnen und Schüler zogen daraufhin in die schuleigene Aula. Als die Direktorin unter „Erfurt raus!“-Sprechchören diese betrat, forderte sie die anwesenden Jungen und Männer auf, das Schulgelände zu verlassen und drohte mit der Polizei, wobei einige „Aufhetzer (…) mit Polizeigewalt aus dem Haus verwiesen [werden mussten].“ (SZ)

Der Brennpunkt des Geschehens verlagerte sich nach diesen Ereignissen auf den Schulhof des Jungengymnasiums, wohin Teile der Schülerinnen und Schüler gezogen waren. Ziel war es hier, die Schüler des Gymnasiums zu einem Solidaritätsstreik aufzufordern und über die Situation am „Lyz“ zu informieren. Die Stimmung war nach wie vor aufgeheizt. Dem Studenten Wolfgang Leipold, selbst ein ehemaliger Schüler des Jungengymnasiums, wurde dabei im Verlaufe des Tumults ein mitgebrachtes Megaphon entrissen und sogar von der herbeigerufenen Polizei vorrübergehend festgenommen (siehe auch das Interview weiter unten). „Es kam zu Szenen, die auf dem Boden eines Gymnasiums bisher fremd waren“, so die Siegener Zeitung. Lehrern des Jungengymnasiums gelang es in der Folgezeit, die aufgebrachten Emotionen zu beruhigen und die Situation zu entschärfen sowie den eigenen Schulbetrieb wieder aufzunehmen. Die Schülerinnen des „Lyz“ zogen weiter in die Aula der Ingenieurschule für Maschinenwesen, wo ihnen Raum gewährt wurde, um ssssüber Reformen an ihrer Schule zu beraten. In den folgenden Tagen war an die Aufnahme eines normalen Unterrichts am Lyzeum nicht mehr zu denken. Die Landesregierung in Düsseldorf erteilte den Schülerinnen deshalb schulfrei mit der Absicht, „die Wogen der Unruhe“ nach dem Motto „Schulfrei statt Schulstreik“ zu „glätten“, wie die Siegener Zeitung damals treffend titelte. In der Zwischenzeit hatten die Mädchen wiederholt in der Aula der Ingenieurschule getagt und formulierten Kritikpunkte an Frau Erfurt, wie z.B., dass sich die Direktorin widerrechtlich an Sitzungen des Schülerrats beteiligt habe, für Missstimmungen im Lehrerkollegium verantwortlich sei, sich unaufgeschlossen für musische Arbeitsgruppen gezeigt habe sowie mit Bemerkungen wie z.B., „die Schülerschaft bestehe aus vom Wohlstand verwöhnten Kindern“(SZ) aufgefallen sei. Eines der Streikziele der Mädchen blieb daher die Absetzung von Direktorin Erfurt als Bedingung für die Aufnahme des regulären Unterrichts. Bis zur Erfüllung der Forderungen sollte weitergestreikt werden.

Frau Erfurt widersprach den ihr unterstellten Vorwürfen und bezeichnete sie in einem Interview mit der Schülerzeitung des Jungengymnasiums in bestimmten Fällen als Lügen und als nicht den Tatsachen entsprechend. Die von ihr am Morgen des 23. Oktober herausgegriffene Schülerin habe sie zu sich genommen, weil sie Klassensprecherin war „und eine Gruppe um sich sammelte“ (SN). Auch wenn es naheliegend sei, dass die betreffende Schülerin auf einen Boykott hingearbeitet haben könnte, werde sie in diesem Falle keine weiteren Maßnahmen einleiten, die Schülerin sei lediglich beurlaubt worden, bis sich die Vorfälle aufgeklärt hätten. Den Einsatz der Polizei halte sie für gerechtfertigt, da sie als Leiterin der Schule auch für jüngere Schülerinnen und deren Sicherheit verantwortlich sei. Vielmehr werde ein verzerrtes Bild über sie in der Öffentlichkeit gezeichnet. Sie werde deshalb nicht zurücktreten, es sei denn, ihr Posten werde vom Kultusministerium aus anderweitig besetzt.

Die Fronten schienen also auf beiden Seiten verhärtet zu sein. Umso überraschender stellte sich in diesem Kontext der Rücktritt von Direktorin Erfurt am 28. Oktober, fünf Tage nach Beginn des Streiks, heraus, da sie „keine Möglichkeit mehr sah, die Geschehnisse auf eine andere Weise zu beenden“(SN). Die Missstände an ihrer Schule würden ihr zu Unrecht alleine angelastet, da sie es aber nicht verantworten könne, dass durch die aktuelle Entwicklung die Kinder ohne Unterricht seien, habe sie sich zu diesem Schritt entschlossen. „Ich will lieber unter dem Wagen liegen, der alles zerstört, als auf ihm sitzen, wenn er alle unter sich vernichtet!“, so die Direktorin laut Schülerzeitung.

Neuer Direktor des Lyzeums wurde Oberschulrat a.D. Münstermann, der aus dem Ruhestand heraus von der Landesregierung nach Siegen geschickt wurde, um vorerst die Leitung der Schule zu übernehmen**. Der Unterricht konnte daraufhin wieder aufgenommen werden. Nichtsdestotrotz fanden sich einige Schülerinnen und Schüler am Nachmittag des 29. Oktober zu einem Demonstrationszug, beginnend am „Lyz“, am Löhrtor vorbeiziehend und schließlich am Marktplatz endend, ein. Auf Transparenten forderten die Schüler dabei etwa eine „antiautoritäre Schule“ oder einfach nur „Solidarität“ mit ihren Zielen. Der Zuspruch für diese Demonstration ließ allerdings sehr zu wünschen übrig, besonders die Schülerinnen des Mädchengymnasiums, „um deren Sache es eigentlich ging“, blieben laut Siegener Zeitung der Protestkundgebung fern. So verlief dieser letzte Akt im Siegener Schulstreik relativ unspektakulär im Sande.

SN – Schulnachrichten Nr. 88 des Gymnasiums am Löhrtor von 1969

SZ – Siegener Zeitung vom 24., 28., 29. und 30. Oktober 1969

*Die Formulierung bezieht sich auf das Deckblatt der Schülerzeitung des damaligen Jungengymnasiums, die sich der chronologischen Aufarbeitung der Vorkommnisse 1969 in einer ihrer Ausgaben widmete. Das Deckblatt der Schülerzeitung zeigt dabei Frau Erfurt in den Reihen ihres Kollegiums, wobei sie aus der Perspektive eines Scharfschützen zu sehen ist, der sein Ziel „ins Fadenkreuz“ genommen hat.

** Oberschulrat Heinrich Münstermann blieb bis zum Januar 1970 am Lyzeum, ehe er von Oberstudienrat Wilhelm Sommer, dem neuen Direktor, abgelöst wurde. Frau Erfurt wurde nach Ihrem Rücktritt an eine andere Schule in NRW versetzt.

Interview mit Wolfgang Leipold

Herr Leipold, Sie waren während des Schulstreiks Student an der Pädagogischen Hochschule in Siegen und wurden während der Tumulte des 23. Oktobers 1969 vorübergehend von der Polizei in Gewahrsam genommen. Wie sind Sie damals auf die Situation am Lyzeum aufmerksam geworden?

Ich war zu dieser Zeit Mitglied im RC, dem Republikanischen Club. Dort haben wir etwa einen kleinen Bücherladen mit linker Literatur gehabt, Konzerte veranstaltet und auch politisch diskutiert. Der RC war damals nicht weit von der Schule entfernt in der Leimbachstraße, und die Schülerinnen des Lyzeums, die in den RC kamen, sagten, „bei uns herrscht ein rückständiges Klima, ein Klima, das uns nicht gefällt“. Was auch von vielen Eltern der Mädchen bestätigt wurde.

Was heißt „rückständiges Klima“?

Das „Lyz“ war eine ausgesprochen rückständige Schule, und Frau Erfurt galt als Hüterin der alten Tugenden. Im Kollegium gab es bis auf einen Mann nur Frauen, das „Lyz“ war also eine richtige Mädchenschule, wie man sie heute nur noch aus dem Kino kennt. Und damals hatte ein Schulleiter mehr Einfluss auf das Schulklima als heutzutage. Frau Erfurt hatte an der Mädchenschule ganz eindeutig „die Hosen an“, und da es damals ja noch keine Mitbestimmung von Eltern und Schülern gab, wurde sie, quasi als Fuhrmann, der die Richtung vorgibt, für das verantwortlich gemacht, was an der Schule falsch lief.

Was dann schließlich zur Eskalation am Morgen des 23. Oktober führte…

Erst einmal haben wir den Schülerinnen damals organisatorische Hilfe geleistet, weil wir im RC eine Druckmaschine, ein Megaphon und den Organisationsgrad und die Räumlichkeiten dafür hatten, denn in der Schule konnten sie sich natürlich nicht treffen. Der RC hat jedoch nicht bewusst auf einen Streik hingearbeitet. Ich bin dann morgens zur Schule gegangen, obwohl ich nachmittags noch mein Examen hatte. Als ich ankam, herrschte von Frau Erfurt schon das strikte Verbot: „Leute, Ihr habt in den Unterricht zu gehen und hier nicht wild rumzudiskutieren.“ Ich war dann später dennoch mit in der Schule; als jedoch die Polizei kam, bin ich sofort raus, da ich erstens ein Junge war und zweitens ein Megaphon hatte und darüber hinaus als Asta-Vorsitzender im Siegerland politisch schon sehr bekannt war. Deswegen nahm mich die Polizei sofort ins Visier. Ich hatte damals das Pech, mit dem falschen Gerät am falschen Ort zu sein.

Ihre Verhaftung erfolgte aber auf dem Schulhof des Jungengymnasiums am Löhrtor: Warum zogen die Streikenden dorthin?

Am Jungengymnasiums war die Situation ähnlich, etwa mit dem damaligen Direktor Dr. Frotscher. Bei diesem Direktor hatte man schon Angst, ihm auf dem Gang zu begegnen. Deshalb haben sich die Mädchen gesagt: „Okay, wir haben eine autoritär geführte Schule, die Schule nebenan ist aber genauso, und wenn wir es schaffen, einen Schülerstreik zu machen, dann nehmen wir die Jungs gleich mit.“ Und es waren ja auch nur knapp 400 Meter vom Lyzeum zum Jungengymnasium.

Und was passierte dann auf dem Schulhof des Jungengymnasiums?

Was ich damals durch das Megaphon gerufen habe, weiß ich leider nicht mehr genau, etwas in die Richtung „Generalstreik! Kommt alle raus! Lehnt euch gegen die autoritäre Schulherrschaft auf!“. Die Schüler waren sofort an den Fenstern und viele strebten auch raus; an Unterricht war nicht mehr zu denken. Weil ich nun als ehemaliger Schüler des Jungengymnasiums und Asta-Vorsitzender bekannt und durch das Megaphon sichtbar war, konnte nur ich es sein, der verhaftet werden würde, denn die Leute aus Frankfurt kannte die Polizei ja nicht.

Leute aus Frankfurt?

Wir haben immer den Kontakt nach Frankfurt gehabt und den RC nach dem Vorbild des Frankfurter Republikanischen Club aufgebaut, und so kamen die auch gerne mal nach Siegen und haben uns den ein oder anderen Tipp gegeben. So ist damals etwa der spätere Top-Terrorist Johannes Weinrich extra von Frankfurt nach Siegen gekommen, quasi als „geübter Revolutionär“, der mit Studentenstreiks und Demonstrationen Erfahrung hat.

Die Polizei verhaftete jedoch nur Sie …

Mit der Begründung des „Hausfriedensbruchs“. Ich wurde dann in die damalige Polizeiwache in der Emilienstraße gebracht, wo die Personalien aufgenommen und an die Justiz weitergeleitet wurden, was vielleicht zwei Stunden gedauert hat, wobei die Polizisten mir gegenüber sehr freundlich und ganz normal waren. Juristische Folgen haben sich für mich später allerdings nicht ergeben, da das Verfahren relativ bald eingestellt wurde.

Und was sagten Ihre Eltern zu der Verhaftung?

Die ganze Situation war für mich sehr unangenehm, auch weil meine Eltern sehr bekannt waren. Mein Vater war Inhaber einer Firma und hat von vielen Kunden richtig Druck gekriegt, was er denn für einen Sohn hätte, und ob man denn überhaupt noch bei ihm kaufen könne. Zu Hause hieß es dann schon, „Wie kannst du uns so was antun?“.

War die Situation also damals stark vom Geist der 68er beeinflusst? Würden Sie den Schulstreik daher als – wenn auch etwas verspäteten – Siegener Beitrag zur 68er-Bewegung rechnen?

Ja klar, das war der lokale Ausläufer der linken Schüler- und Studentenbewegung, der allerdings nie ohne die Vorbereitung in den großen Städten, ohne die Politisierung und die zahlreichen Diskussionen zu dieser Zeit gekommen wäre.

Und wie schätzen Sie die Lage heute, mit einem Rückblick von vier Jahrzehnten, ein?

Also mit dem Rückblick von 40 Jahren, ist klar, dass wenn einer damals verhaftet werden würde, dann konnte nur ich das sein. Die Schul- und Hochschullandschaft zu reformieren war allerdings längst überfällig, das ist mir heute auch noch ganz klar. Und der Schulstreik hat auf jeden Fall dafür gesorgt, das Klima am Lyzeum positiv zu verändern.

Halten Sie die von den Streikenden ergriffenen Maßnahmen auch heute noch für gerechtfertigt?

Für Frau Erfurt tut es mir persönlich sehr leid, sie war mit Leib und Seele Lehrerin, hatte keinen Mann und lebte daher für den Beruf. Nach ihrem Rücktritt hat sie dann auch alle Kontakte nach Siegen abgebrochen. Als Direktorin war sie jedoch für das Schulklima des „Lyz“ verantwortlich. Ob die Maßnahmen damals gerechtfertigt waren, ist schwer zu beantworten. Ich würde sagen, jede Zeit hat ihre Methoden, und für viele war der Schulstreik daher sicherlich auch ein Abenteuer. Im RC waren damals Strömungen vorhanden, die gesagt haben, wir müssten mit Gewalt protestieren, wobei ich mich aber immer dagegen gesperrt habe.

Eine letzte Frage: Wie ist eigentlich ihr Examen ausgegangen, zu dem Sie nachmittags, nach ihrer Freilassung, ja noch mussten?

Ich habe mit 2 bestanden und war sehr zufrieden!

Herr Leipold, vielen Dank für dieses Gespräch!