Migrationsgeschichten kurdischer Siegener

von Leyla Sadak

Wenn du in die Fremde gegangen bist

und dich weit von der Heimat entfernt hast

vergiß uns alle nicht.

Irgendwann werden unsere Hoffnungen wahr.

Bestell den Alten und den Greisen

sie sollen zu ihren Freunden zurückkommen

Süßes Kurdistan

in tausend Jahren vergessen wir dich nicht.

Ach, ach ihr Freunde

die Mutter weint klare Tränen.

Kommt zurück an ihre Brust

Damit ihr Weinen ein Ende hat.

Wie lange der Vogel auch kreist

an seinen Platz kehrt er zurück.

Wieviel Unglück wir auch sehen

wir bleiben doch immer wir selbst

(Tahsin Taha 1941-1995, kurdischer Sänger )

Literaturliebhabern sind sie durch Karl Mays „Durchs wilde Kurdistan“ ein Begriff. In den letzten Jahren erfuhren sie jedoch im Zusammenhang mit dem Bürgerkrieg in Syrien, dem Kampf gegen den Islamischen Staat und den politischen Auseinandersetzungen in der Türkei, besonders große Aufmerksamkeit: Die Kurden sind ein Volk, von dem nur in Kriegszeiten die Rede ist. Mit 25-30 Millionen sind sie das zahlenmäßig größte Volk ohne eignen Staat. Der Kampf um eine kurdische Autonomie forderte in den letzten Jahrzehnten viele Verluste. Vor allem die 1980er und 1990er Jahre waren in der Türkei für die kurdische Bevölkerung einschneidende Jahrzehnte, in denen sie ihre Heimatdörfer verlassen mussten.

Die Geschichte der kurdischen Migrationsbewegung ist eine Geschichte vom Streben nach Freiheit, Gleichberechtigung, Respekt und Perspektiven aus den kurdischen Regionen in der Türkei, im Iran, Irak und in Syrien. Millionen Kurdinnen und Kurden leben inzwischen in vielen Staaten der Welt, die ihnen ihre ersehnten Grundrechte und Sicherheit gewähren und ihren Nachkommen eine Perspektive bieten. Kurdinnen und Kurden kamen als Studierende, Gastarbeiter, Familienangehörige, politisch Verfolgte und Kriegsflüchtlinge nach Deutschland. Als Anfang der 1980er Jahre der politische Kampf der Kurdinnen und Kurden um ihre Minderheitenrechte in der Türkei begann, war vor allem der Südosten der Türkei betroffen. In diesem Bürgerkrieg wurden deren Heimatdörfer durch das türkische Militär zerstört, um die kurdische Widerstandbewegung zu bekämpfen und eine regelrechte Vertreibungspolitik durchzuführen. In den folgenden Jahrzehnten emigrierten tausende Kurden aufgrund politischer Verfolgung ins Exil.

Einige davon fanden ihre neue Heimat im Siegerland. Darunter befanden sich zwei Kurden, die sich in Siegen neue Existenzen aufbauten und die Gründungsmitglieder der heutigen Kurdischen Gesellschaft e.V. in Siegen wurden. Reşit A., der 1987 mit seiner Frau und seinen zwei Kindern nach Deutschland emigrierte, schilderte seine Beweggründe folgendermaßen: „Der Südosten der Türkei ist Teil des kurdischen Siedlungsgebietes und wurde von der türkischen Regierung systematisch ausgehungert, um Autonomiebestrebungen im Keim zu ersticken. All jene fortschrittlichen Entwicklungen, die für die in Westeuropa das Leben im 20. Jahrhundert definieren, kannten wir nicht: keine Elektrizität, keine politischen Rechte, keine Medien und so gut wie keine schulische Bildung, sieht man von den einfachen Volksschulen ab. Die einzige intellektuelle und weltanschauliche Quelle war der Koran, den meisten war er jedoch ausschließlich in seiner mündlichen Überlieferung zugänglich, denn des Lesens und Schreibens waren nur wenige mächtig. So waren nicht nur die Lebensumstände geradezu mittelalterlich, sondern auch unsere Vorstellungen von der Welt. Kurz gesagt: Ich sah keine Perspektive mehr, weder für mich, noch für meine Kinder.“ Emin S., der sich 1989 aus politischen Gründen entschied auszuwandern, musste zunächst alleine ohne Frau und Kinder die Heimat verlassen. Beide kamen zu unterschiedlichen Zeiten und über unterschiedliche Wege nach Siegen. Beide mussten ihre Heimatdörfer aufgrund der kritischen Lage verlassen und entschieden sich in Deutschland nach neuen Perspektiven zu suchen. Über einen gemeinsamen Freund lernten sie einander 1990 kennen. Durch ihre politisch-kulturellen Aktivitäten angetrieben, verstärkte sich ihre Freundschaft und Zusammenarbeit. In Deutschland angekommen, vergaßen sie die Geschehnisse im Südosten der Türkei nicht. Auf die Frage, welche die jüngste Erinnerung an das Leben in der Türkei war, antwortete Emin S.: „An einem meiner ersten Schultage, es war in der Mitte der 60 Jahre, wurde ich vom Lehrer gerufen. Ich bekam von ihm fünf Schläge mit dem Stock auf die Hände und wusste nicht wofür. Später erfuhr ich von älteren Schülern, dass jeder Schlag für ein Wort Kurdisch war, das ich in der Pause auf dem Schulhof gesprochen hatte und welches ein anderer Schüler, der „Kurdisch-Wächter“- den es neben einem „Sauberkeits- und einem Gesundheitswächter“ gab, notiert und dem Lehrer gemeldet. Der türkische Staat wollte, dass wir Türkisch lernen und Kurdisch oder „Bergtürkisch“ vergessen.“

Als Reşit A. und Emin S. nach Deutschland kamen, hatten sie nicht nur ihre Existenzen im Herkunftsland zurückgelassen, sie selbst waren ohne Sprache, Orientierung und Fürsorge. Sie hatten weder eine Organisation noch einen Ort, wo sie sie hingehen, sich begegnen und ihre persönlichen Geschichten mitteilen konnten. Sie teilten nicht nur das Leid der kurdischen Bevölkerung in den türkischen Gebieten. Für sie ging die Pein der Kurden und Kurdinnen über die Grenzen hinaus. Für sie war es wichtig, Solidarität mit der ganzen kurdischen Gemeinschaft zu zeigen. So nahmen sie beispielsweise 1992 an einer Demonstration anlässlich des Halabdscha-Massakers 1988 teil, eines Giftgasangriffs auf 5000 Kurden nordöstlich des Iraks. Die Teilnahme an solchen und ähnlichen Versammlungen kommentiert Reşit wie folgt: „Es geht um Zusammenhalt. Wir Kurden erlebten viele Traumata, durch die Regierungen unter denen wir lebten und unterdrückt wurden. Deshalb ist es umso wichtiger, sich zu solidarisieren und zu vermitteln, dass wir mit ihnen fühlen, dass wir nicht vergessen und weiter an den Widerstand glauben. Das war 1992 so und das ist 2017 immer noch so. Wir hören unsere Solidarität in Liedern, lesen sie in Gedichten, erzählen sie in unseren Geschichten und vernehmen sie aus den Reden der Aktivisten. Das hilft uns mit der Vergangenheit und ebenso mit der Gegenwart umzugehen.“

Im Zuge des verstärkten Wunsches nach Zusammenhalt, als in den 1990er Jahren immer mehr kurdische Vereine ins Leben gerufen wurden, entschieden Reşit A. und Emin S. einen eigenen Verein in Siegen zu gründen. Obwohl sie schon vorher kulturelle und politische Abende veranstaltet hatten, realisierten sie 1992 die Idee eines kurdischen Vereins in Siegen in der Koblenzer Straße 33. So versuchten sie auch in Siegen, durch Demonstrationen und Kultur- sowie Informationsabende, ihrer in der Türkei unterdrückten Stimme Gehör zu verschaffen. Eingebunden in das Exilnetzwerk von Kurden und Kurdinnen, die die politischen Ambitionen in der Heimat befürworteten, organisierten sie sich auch in Siegen. Durch den Freiraum, der sich hier bot, war es den Siegener Kurden möglich, ihre Kultur offen zu pflegen und ihre Identität als Kurden neu zu entdecken. Der Kontakt zu anderen Kurden wirkte sich auf ein verändertes Selbstbild aus. Als Gemeinschaft wurden sie selbstbewusster. Ihr Verein wurde ein Ort der Zusammenkunft, wo sie immer mehr Kurden und Kurdinnen mit dem gleichen Schicksal kennenlernten. Sie organisierten Veranstaltungen, Musikabende und nahmen als kurdische Gemeinde an unterschiedlichen Stadtfesten teil. Als Arbeitskreis Kurdistan beteiligten sie sich schon in ihrem ersten Gründungsjahr am Roten 1. Mai in Siegen. Bis heute wirken sie als kurdische Gemeinschaft an den Demonstrationen, Kundgebungen und anschließenden Feierlichkeiten mit. In ihrer über 20Jährigen Teilnahme am Roten 1. Mai, ist es fast schon Tradition geworden, an diesem Tag mit kurdischen Sängern und kurdischer Volksmusik aufzutreten sowie nebenher an kleinen Ständen kurdische Spezialitäten anzubieten. Darüber hinaus organisierten sich ebenso kurdisch-stämmige Studierende der Universität Siegen. 1997 wurde eine Hochschulgruppe an der Universität Siegen ins Leben gerufen, die sich aus studentischer Perspektive für die kulturellen und politischen Belange der kurdischen Gesellschaft engagierte, jedoch wurde die Arbeit als offizielle Hochschulgruppe 1999 aufgrund geringer Mitgliederzahlen langsam wieder eingestellt. Bereits 1998 löste sich ebenso der Vereinssitz in der Koblenzerstraße auf, da der Pachtvertrag zu dem Zeitpunkt auslief. Ein Jahr nach dessen Schließung, wurde in Geisweid ein neuer Versuch gestartet und ebenda ein Raum für Vereinstätigkeiten angemietet. Bis 2001 wurden hier Versammlungen organisiert und Vorträge gehalten, die über die Lage in Kurdistan, über die gesellschaftlichen Strukturen sowie frauenemanzipatorische Veränderungen informieren sollten. Lange Zeit mussten die Siegener Kurden und Kurdinnen ohne einen Verein auskommen und veranstalteten gemeinsame Abende oder Demonstrationen über andere Vereine, um die aufklärerische Arbeit nicht zu vernachlässigen müssen. Der Verein als Kurdische Gesellschaft e.V. existiert offiziell wieder seit 2015 in Kreuztal. An der Universität Siegen engagieren sich ebenfalls seit 2015 die Kurdischen Studierenden als Hochschulgruppe für einen interkulturellen Austausch, organisieren Spendenaktionen und bieten verschiedene Veranstaltungen an.

Rückblickend sind die beiden Gründungsmitglieder über die Entwicklungen, abseits der politischen Situation, zufrieden. Sie haben eine Grundlage für den deutsch-kurdischen Austausch in Siegen geschaffen, der bis heute anhält und immer mehr engagierte Mithelfer aus der zweiten Generation animiert. Die Verbundenheit zu Siegen beschreibt Resit A. folgendermaßen: „Siegen ist unsere zweite Heimat. Wir vergessen unsere Wurzeln nicht und verbringen gerne Zeit dort, wo wir ursprünglich herstammen, dennoch fühlen wir uns nun auch mit dem Siegerland verbunden. Wir können uns eine andere Stadt in Deutschland nicht mehr als Wohnort vorstellen. Hier haben wir eine neue Existenz aufbauen können. Unsere Kinder sind hier geboren, aufgewachsen und zur Schule gegangen. Hier haben sich für uns neue Chancen ergeben, für die wir heute sehr dankbar sind.“

Wie im eingangs zitierten Gedicht fühlen viele Kurden, die ihre Heimat verlassen mussten, ebenso auch viele kurdische Familien, die im Siegerland neue Wurzeln geschlagen haben. In Gedenken an die Vergangenheit leben sie nun in Siegen die grundsätzlichen Freiheiten aus, die ihnen in ihren Herkunftsländern verwehrt blieben. Vor über 25 Jahren begann ihr politisches Engagement für freiheitlich-demokratische Strukturen, in denen sie und ihre Kinder, die Möglichkeit auf Bildung und Gleichberechtigung haben konnten. Heute blicken sie dankbar zurück und sind froh sich für Siegen entschieden zu haben. Die Stadt, die ihnen ein neues Zuhause gab.

(2017)