von Mike Brach
Seit mehreren hundert Jahren gibt es sie. Lange Zeit prägten sie das Leben an den deutschsprachigen Universitäten, teilweise bis heute. Über 1000 von ihnen gibt es derzeit noch in Deutschland und viele weitere mit deutscher Tradition von Chile über Südafrika bis Japan. Die Rede ist von Studentenverbindungen. Auch in Siegen gibt es sie, doch führen sie hier nur eine Existenz nahe der Unkenntlichkeit.
Während sie früher das komplette studentische Leben prägten (Bonn hatte zeitweise eine Korporiertenquote von 60 %), bilden sie heute in den meisten Städten nur noch eine Subkultur neben vielen anderen. Dabei handelt es sich nicht um eine homogene Gruppe. Im Gegenteil, die Auflistung der verschiedenen Besonderheiten und Untergruppen würde diesen Rahmen hier sprengen. Jedoch als Gemeinsamkeit haben sie alle das Lebensbundprinzip sowie die Convente. Ein Convent ist basisdemokratisch ausgerichtet. Auf ihnen wird das komplette Bundesleben organisiert, d. h. jede Veranstaltung geplant, Neuaufnahmen aufgestimmt, Regeln aufgestellt oder Strafen verhängt und dabei verfügt jeder über das gleiche Stimmricht. Der Alltag der Burschenschafter gestaltet sich vielfältig. Neben wöchentlichen Stammtischen und Paukstunden (Fechttraining), trifft man sich zu den verschiedenen Veranstaltungen des Semesterprogrammes. Das Programm besteht aus hochwertigen Vorträgen, Partys, gemeinsamen Reisen und traditionellen Punkten wie der Feuerzangenbowle und den Kneipen (traditionelle studentische Feiern).
Zu Beginn sind einige Vokabeln bzw. besondere Begriffe des Verbindungswesens zu klären, ohne die das Verständnis des Textes nicht möglich sein wird.
Fux (F): Der Fux ist ein neues Mitglied auf Probe. Diese Probezeit gilt sowohl für den Anwärter, als auch für die Verbindung und kann von beiden Seiten jederzeit beendet werden. Anders als in den USA müssen sich die Füxe in Deutschland keinen durchgehenden Schikanen stellen. Nach einer ersten Prüfung (Brandungsprüfung) sprich man von Brandfüxen, vorher von Krassfüxen. Nach der bestandenen Burschenprüfung, einer Abfrage von Wissen über die generelle und eigene Verbindungsgeschichte sowie über besondere Regeln und Umgangsformen, wird der Fux geburscht.
Bursche: Burschen sind vollwertige Mitglieder der Verbindung. Es wird unterschieden zwischen aktiven Burschen (aB), die am Studienort sind, und inaktiven Burschen (iaB), die z.B. im Auslandssemester sind, kurz vor dem Examen stehen oder ihr Studium an einem anderen Ort fortsetzen. Aus dem Kreis der Burschen heraus wird jedes Semester aufs Neue demokratisch die Chargia gewählt. Diese leitet die Verbindung und vertritt sie nach außen.
Aktivitas: Alle Füxe und Burschen gemeinsam werden als Aktivitas bezeichnet.
Alte Herren (AH): Nach dem Studium wird man ein alter Herr und tritt dem Altherrenverband (AHV) bei. Diese sind Ansprechpartner für die jüngeren Mitglieder und besuchen diese regelmäßig in ihrem Studienort. Zudem stellen sie die finanzielle Grundlage des Aktivenlebens und bilden ein Netzwerk, durch das Studenten in Form von Praktika Einblick ins Berufsleben erhalten können.
Zahlreiches weiteres Fachvokabular wird im internen Gebrauch verwendet und istfür das Verständnis des Textes nicht weiter notwendig. Interessant ist zudem, dass durch die frühere hohe Bedeutung der Verbindungen viele Worte ins Gesamthochdeutsche gelangt sind, wie z. B. Blamage, Kneipe, pauken oder der Ausdruck "ein ungehobelter Bursche". Dort haben sie jedoch oft eine andere Bedeutung als im Verbindungsjargon.
Die Gründung
Am 15. Dezember 1952 trafen sich einige Studenten der Wiesenbauschule, um zu ihrem 100-jährigen Jubiläum eine Studentenverbindung zu gründen. Die offizielle Gründung folgte dann am 18. Dezember 1952 durch 24 Studenten der Bauschule Siegen unter dem Namen "Studentische Verbindung Sigambria zu Siegen". Man gab sich die Farben Grün-weiß-Gold und den Leitspruch ,,Ehre, Freiheit, Vaterland." Sigambria ist die älteste bis heute existierende Verbindung Siegens. Die Gründungsburschen bzw. die erste Chargia waren Götz, Fallstaff und Zack. Am 9. Januar 1953 erging ein Schreiben an den Direktor der Bauschule mit der Bitte um Anerkennung. Der Sinn und Zweck der Verbindung wurde folgendermaßen beschrieben:
"Zur Pflege der Kameradschaft, des Sports und des gesellschaftlichen Verkehrs fand sich ein Teil der Studierenden der Bauschule zusammen, um diese Ziele auf studentischer Grundlage durchzuführen." Ein wohlwollendes Antwortschreiben des Direktors ging am 17. Januar ein. In einem weiteren Schreiben, das das Treffen des 15. Dezembers zusammenfasst, wird neben dem geselligen beisammen sein auch die Horizonterweiterung als ein Anliegen dargestellt.
,,In Vorträgen und Diskussionen sollen in den Zusammenkünften Erfahrungen, Wissen und Erkenntnisse vermittelt werden, die dem Einzelnen als Anregung dienen sollen."
Dies ist der Anspruch vieler Verbindungen, v.a. der Burschenschaften, und hat sich auch bis heute mit vielfältigen Themenbereichen erhalten.
Vergessene Ahnen?
Relativ kurz nach ihrer Gründung erfuhr die Verbindung, dass sie nicht die Erste an der Wiesenbauschule war, sondern lediglich die erste Verbindung, die nach dem 2. Weltkrieg eröffnete.
So wurde der Kontakt mit dem Altherrenverband der "Kulturtechnischen Vereinigung Siegen- Oranien" aufgebaut. Diese wurde im Jahre 1927 gegründet, musste sich allerdings aufgrund der Nazidiktatur und dem damit einhergehenden Verbot aller Studentenverbindungen schon im November 1935 selbst auflösen.
Aus den Akten ist zudem zu erkennen, dass es weitere Verbindungen in Siegen gab. Zu benennen ist dort v. a. die 1878 gegründete Schülerverbindung Sigambria zu Siegen mit den gleichen Farben der heutigen Sigambria. Außerdem gab es ebenfalls vor dem 1. Weltkrieg die Verbindungen Orania Siegen, KTV Meliora Siegen, Teuto-Westphalia Siegen, Germania Siegen und die katholische Verbindung Sauerlandia Siegen.
Sehr hilfreich in der Gründungsphase war der Kontakt mit der Studentischen Vereinigung Erica zu Suderburg (später auch Burschenschaft und im gleichen Dachverband). Suderburg besaß genau wie Siegen eine Ingenieursschule. Anders als Siegen-Oranien reaktivierten die Suderburger Bundesbrüder ihre Verbindung nach dem 2. Weltkrieg schnell wieder und blicken so auf eine gemeinsame Verbindungsgeschichte zurück. Da die Suderburger bereits mit der alten Siegener Verbindung in Kontakt standen, freute man sich dort sehr über ein neues Interesse am Farbstudententum an der Siegener Hochschule.
Die Boomjahre
Da eine Aktivitas ohne finanziellen Hintergrund eines Alterherrenverbandes nur schlecht existieren kann, wurde dieser relativ zeitnah am 07. Juli 53 während der Ingenieursverabschiedungsfeier gegründet. Im Briefverkehr Wintersemester 54/55 ist ersichtlich, dass sich lediglich sechs AH der Siegen-Oranien zurückgemeldet hatten und der Verbindung beitraten. Viele Daten über die alten Oranier wie z. B. ihr Wohnort gingen im Krieg verloren. Ebenso ist bis heute ungewiss, wie viele Bundesbrüder den Krieg nicht überlebt hatten. Zudem sind nachweislich mindestens zwei Mitglieder der KTV Meliora Siegen in den AHV eingetreten.
Der Zuspruch bei den Studenten für eine Verbindung war sehr groß. So waren am 19. September 1953 bereits 40 aktive Burschen und zehn Füxe zu verzeichnen. Diese Größe wurde nie wieder erreicht. Für die junge Verbindung war es sehr erfreulich und sicherlich auch förderlich, dass der damalige Direktor Schulze der Ing.-Schule für Bauwesen in Siegen als Ehrenmitglied der Sigambria beitrat. Der Beitritt der Dozenten Gorski und Steiner sorgten zusätzlich für eine hohe Reputation. Zudem wurden Absolventen vorheriger Jahrgänge in einem Rundbrief für die Altherrenschaft geworben. Das große Interesse unter den Studierenden der Bauschule machte es schwer geeignete Plätze und Lokalitäten für die Treffen und Veranstaltungen zu finden. Daher gab es anfangs oft wechselnde Orte für die Kneipen (studentischer Brauch, ritualisiert), so zum Beispiel: das Gasthaus Klein, die Gastwirtschaft Kellebrand, manchmal gab es sogar Steh- oder Schulhofkonvente direkt an der Fachhochschule. Als erste feste Konstante wurde die Gastwirtschaft Lathe auserkoren. Am 19. März 54 wechselte man bereits in eine neue Konstante: Das Hotel Huthsteiner/Gaststätte Hartmann, in der Bahnhofstraße. Man zog am Anfang von Gaststätte zu Gaststätte um einen Ort für eine Kneipveranstaltung zu finden. Dies erklärt die oft wechselnden Orte. Die Vernetzung im Verbindungsleben außerhalb Siegens war schon beim 1. Stiftungsfest gegeben. Vertreter von acht auswärtigen Korporationen waren anwesend.
Das Jahr 1954 war ein herausragendes für die Verbindung und brachte viele Veränderungen mit sich. So entschied man sich zwischen dem 16. März und 05. April 1954 zur Umbenennung der Verbindung. Damit wurde aus der St. V. Sigambria zu Siegen die Burschenschaft Sigambria zu Siegen. Bereits zuvor wurde der in der Gründungszeit geschaffene Sportwart abgeschafft. Nur zwei Monate später folgten weitere Schritte, die das Bundesleben auf Jahre beeinflussten. Am 19. Juni 1954 trat man dem Dachverband Bund Deutscher Ingenieur-Corporationen (kurz BDIC) bei. Dies sollte den Kontakt zu Ingenieursverbindungen in ganz Deutschland mit sich bringen oder bereits vorhandenen Kontakt verstärken. Auf einem Convent fünf Tage nach dem BDIC-Beitritt entschied man sich, sich der dort üblichen Fuxenzeit von zwei Semestern anzugleichen. Vorher verlangte man in Siegen lediglich ein Semester als Fux. Die Nachwuchsarbeit nahm davon jedoch keinerlei Schaden.
1955 kam es sogar zu dem Fall, dass das ganze Vorsemester geschlossen der Sigambria beitreten wollte. Von den Aktiven wurde dies jedoch abgelehnt. Die Zahlen der Füxe und Aktiven belegen deutlich, weshalb man den Luxus hatte so viele Leute abzulehnen.
05. November 1955: 15 Brandfüxe und 6 Krassfüxe
Sommersemester 1956: 6 Brandfüxe, 12 Krassfüxe
Wintersemester 56/57: 13 Füxe, 26 aB, 31 iaB
Zudem waren im AHV zwölf Jahre nach dessen Gründung bereits 101 Mitglieder registriert und aktiv.
Stiftungen und andere Verbindungen
Für die Verbindungshistorie in Siegen spielt die Burschenschaft eine entscheidende Rolle. Ab 1956 ist die Burschenschaft Sigambria nämlich maßgeblich an fast allen Gründungen oder Reaktivierungen von Verbindungen in Siegen beteiligt. Es folgt die Chronologie:
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16. Oktober 1956: Die Burschen Cox und Emir sowie zwei Füxe der Sigambria gründen mit Hilfe der Alemannia Kiel (Bacchus) die Alemannia Siegen.
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1959: 2 Burschen der Sigambria reaktivieren die Burschenschaft Thuringia Bad Frankenhausen in Siegen. Status: Aktiv
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1960: Burschen der Sigambria stellen Stützburschen zur Reaktivierung der Turnerschaft Tuiskonia Mittweida in Siegen. Da Mittweida in der DDR lag und dort jede Form von Verbindungen verboten waren, mussten sich die Tuiskonen eine neue Heimat suchen. Status: vertagt. AHV besteht.
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1961: Zwei Füxe der Sigambria gründen eine katholische Verbindung in Siegen (Heute CDStV Nibelungen zu Siegen). Status: Aktiv
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1991: Ein Bursche verlässt die Sigambria und gründet mit seiner Freundin die geschlechtergemischte Verbindung Siegen Occidentia. Status: Vertagt seit 2005
Zudem gab es weitere Bünde in Siegen, die ohne Beteiligung der Sigambria entstanden, wovon sich jedoch keine Verbindung auf Dauer hielt.
KStV Orania Siegen ( Gründung 1966, Vertagung '72, Reaktivierung '83, Vertagung '93)
Corps Markomannia Breslau Köln + Siegen (1992 bis 1996)
Landsmannschaft Rheno-Guestphalia Ilmenau Siegen (1960 Reaktivierung in Siegen, '68 vertagt)
Des Weiteren existierten an der privaten Ingenieursschule Neunkirchen (ohne staatliche Lizenz) die Germania Neunkirchen sowie an der Außenstelle der Universität Siegen in Gummersbach eine Burschenschaft Teutonia Gummersbach (Heute St. V. zu Teutonia Chemnitz und Gummersbach).
Gesellschaftlicher Wandel
Nach dieser anfänglichen Euphorie für die junge Verbindung nahm das Interesse langsam ab. Der Grund dafür ist das Aufkommen weiterer Verbindungen in Siegen, die somit in Konkurrenz um potentielle Mitglieder traten. Im Sommersemester 64 gab es immerhin noch stattliche 15 aktive Burschen und fünf Füxe. Der gesellschaftliche Wandel und die 68er-Bewegung trafen die Verbindungen in ganz Deutschland hart. Viele wurden vertagt, das heißt, sie wurden inaktiv, bis wieder genügend studentische Mitglieder vorhanden waren. Die Mindestanzahl dafür liegt bei drei Personen. Von dieser langen Zeit der rückläufigen Entwicklung blieb auch Siegen nicht verschont. Deutschlandweit und auch für die Sigambria erreichte die Entwicklung Mitte der 80er Jahre ihren Tiefpunkt. 1984 vertagte die Sigambria Siegen. Die alten Herren aus jener Zeit berichten jedoch, dass das Aktivenleben nie gänzlich eingestellt wurde, sondern nur auf ein Mindesmaß zurückgefahren. Man traf sich unregelmäßig und versuchte gezielt junge Leute zu finden um die Verbindung schnellst möglich zu reaktivieren. Seit Mitte der 80er erfreute sich das Verbindungswesen wieder steigender Beliebtheit, ebenso die Sigambria. Aufgrund von Lücken im Archiv ist die genaue Reaktivierung nicht verzeichnet. Die inaktive Zeit war jedoch nicht von langer Dauer, da Protokolle von 1986 bereits wieder von einer Aktivitas reden. Im Sommersemester 87 verfügte man bereits wieder über acht Füxe. Zudem hatte man ein Haus erworben, welches als Wohn- und Veranstaltungshaus genutzt wurde. Gleichzeitig beendete man die Mitgliedschaft im Dachverband BDIC, da dieser zum Einen massiv an Reputation verloren hatte und sich im Niedergang befand, zum Anderen war man nun eine Universitätsverbindung (Gründung der Universität Siegen im Jahre 1972) und suchte daher vermehrt Anschluss an Burschenschaften der alten Universitäten. Im Sommersemester 1991 wurde das Verbindungshaus gewechselt und man zog in den Lambertweg 6 nach Niedersetzen. Ingesamt betrachtet ist die Zahl der Burschen seit den 80er-Jahren sehr schwankend gewesen. In manchen Jahren bewegte man sich mit 4-5 aktiven, studentischen Mitgliedern knapp an der Mindestanzahl der Aktivitas (sie erfordert mind. 3 Personen), in den folgenden Jahren verfügte man plötzlich wieder über 15 Aktive. Im Jahre 2004 folgte dann der letzte Ortswechsel. Das Haus am Wilhelm-von-Humboldt-Platz 1 wurde gekauft und neuer Treff- und Veranstaltungsort. Im Jahr 2007 folgte ein weiterer Höhepunkt der Geschichte. Die erste Tochterverbindung, die Burschenschaft Alemannia Siegen, fand nach mehrfacher Vertagung den Weg zurück zur Mutterverbindung. Seit der Fusion trägt die Verbindung den Namen Burschenschaft Sigambria et Alemannia zu Siegen. Seit 2013 stellt ein Alter Herr ein weiteres Haus in Weidenau zur Verfügung, welches als Wohnhaus genutzt wird.
Insgesamt blickt die Sigambria also auf eine sehr wechselhafte Geschichte zurück, die teilweise weit vor dem Grüdungsjahr 1952 beginnt. Trotz gesellschaftlicher Umbrüche schaffte man es die Traditionen in die Moderne zu retten und weiterhin junge Studenten zu finden, die diese pflegen.
Die Hauptquelle dieser Informationen war das verbindungseigene Archivzimmer, in dem sich über 100 Ordner mit Protokollen, Briefwechseln und Semesterprogrammen befinden. Fehlende Informationen wurden durch Alte Herren ergänzt.