- Streik der Meggener Bergarbeiter

von Denise Fischer

Industrialisierung, Bergarbeiter, Streik. Im Folgenden geht es um den historisch belegten Bergarbeiterstreik in Meggen, der zum Teil durch den fiktiven Hauer Joseph Becker veranschaulicht wird. Noch heute sieht man in ganz Meggen sowie im Nachbardorf Halberbracht die Folgen des Bergbaus, wie etwa die riesigen Fachwerkhäuser und die Bahn in Richtung Siegen. Doch nicht darum soll es gehen, sondern viel mehr um den emotionalen und wirtschaftlichen Kampf um mehr Lohn und bessere Arbeitsbedingungen. Die Zusammenkunft der Arbeiter und die einzelnen Gespräche sind frei erfunden und dienen der Veranschaulichung der Situation der Bergarbeiter und ihrer Familien.

Als Josef Becker kurz vor Weihnachten im Jahre 1911 seine Lohntüte auf dem Esstisch seiner Zweizimmerwohnung auskippte, begann seine Frau Anna zu weinen. Sie waren verzweifelt, denn sie wussten keinen Ausweg mehr. Wie sollten sie nur ihre Familie ernähren? Maria, die älteste Tochter und Jonas gingen bereits arbeiten, doch die Zwillinge Lisa und Jan waren erst zwei Jahre alt und für so etwas zu klein. Anna versuchte, hin und wieder für ihre gestrickte Kleidung etwas zu bekommen, doch die Zeit, in der diese noch für gute Preise gekauft worden war, war längst vorbei. Es lohnte sich nicht mehr.
Da saßen sie nun gemeinsam am Tisch, die ganze Familie in der Küche versammelt. Nebenan lag das Schlafzimmer, wo alle schliefen. Die daneben liegende Tür führte in ein kleines Badezimmer. Eine größere Wohnung gab es für Bergarbeiterfamilien nicht.
Wenn man doch hätte sagen können, dass es wenigstens warm war, doch für Holz und Kohle war kaum Geld da. Daher sparte die Familie an den Heizkosten.
Plötzlich hörten sie wütendes Geschrei. Der Vater der nebenan wohnenden Familie war scheinbar aufgebracht. Was war bloß passiert? "Sieh nach, Josef.", flüsterte Anna und versuchte, die Zwillinge zu beruhigen, die begonnen hatten zu weinen.
Kraftlos und gestresst erhob Joseph sich von seinem wackeligen Holzstuhl, schritt aus der Wohnung heraus und klopfte an der Nachbartür. Emma, die Frau seines Nachbarn öffnete ihm und ließ ihn wortlos eintreten. Ein wutgeröteter Kopf mit schütterem Haar starrte Josef erschrocken an. Ein Stuhl lag zerschlagen am Boden.
"Was ist passiert?", stieß Josef erschrocken aus.
"Die Grubenverwaltung will den Frieden nicht!", spie Paul aus. "Die Verhandlungen im September haben nichts gebracht. Und auch im neuen Jahr werden wir lange auf Änderungen warten können!" Verzweifelt und wütend schlug der Mann auf den Tisch und ließ sich schließlich auf einen der noch heilen Stühle fallen.
Josef wusste, dass Paul mit auf der Belegschaftsversammlung gewesen war. Sie hatten vor allem um mehr Lohn und bessere Arbeitsbedingungen gebeten. Doch nichts hatte geholfen.
Wieder klopfte es an der Tür. Herein kam eine ganze Schar beschmutzter Bergarbeiter, allesamt mit wütenden Gesichtern. Die letzte Lohntüte hatte wohl alle verzweifeln lassen.
"Es muss etwas geschehen!", rief einer von ihnen. "Niemand von uns kann seine Familie mehr ernähren, wie müssen etwas tun, wenn die Grubenverwaltung nichts ändert!"
Ein weiterer stimmte zu: "Sollen wir etwa zusehen, wie die Hintern der Verwaltung immer dicker werden und durch unsere schon die Knochen scheinen? Sollen die doch im Berg arbeiten und an Staublungen und Einstürzen zugrunde gehen!"
Nach kurzer Zeit war der Raum erfüllt von wütenden Männerstimmen und staubigem Husten. Die Stimmung war wie elektrisiert.
"Wir sollten streiken!", rief ein untersetzter Mann von ganz hinten. Lautere Zustimmung ließ die Verzweiflung auch in Josef bersten. Langsam wuchs wütende Zustimmung in ihm heran, weshalb es auch seine eigene Stimme war, die rief: "Der Gewerkverein muss etwas tun! Lasst uns die Arbeit niederlegen." Es war beschlossen, morgen würden sie die Gewerkschaft um Hilfe bitten.

"Die Grubenverwaltung will den Frieden nicht!" Es war die Überschrift des Flugblattes, das kurz nach der Zusammenkunft von der Gewerkschaft verfasst worden war. Nicht nur im Haus der Glück-auf-Straße hatte es Ärger gegeben. Auch in anderen Teilen Meggens war es anscheinend zu Zusammenkünften und massenhaften Gefühlsausbrüchen gekommen. Der Gewerkverein hatte prompt darauf reagiert und in einem Flugblatt zum Streik aufgerufen. Dieses Flugblatt hielt Josef nun in der Hand. Es war ein Funken Hoffnung für ihn und seine Familie. Jetzt musste die Grubenverwaltung doch reagieren, nicht wahr?

Vor Aufregung nahm er sich einen Stift und unterstrich die Forderungen, um zu überprüfen, ob auch kein Punkt ausgelassen worden war. Der erste und Wichtigste war die Lohnerhöhung von 15 %. Joseph war Hauer und hatte eine der anstrengendsten Aufgaben im Bergwerk. Hinzu kam, dass das Gebirge aufgrund seiner Beschaffenheit nur sehr schwer zu behauen war. Wie oft war er aus diesem Grund mit einer nahezu leeren Lohntüte nach Hause gekommen, obwohl er genauso lange gearbeitet hatte, wie die anderen Arbeiter! Es lag ja nicht an ihm, dass während der Arbeit so wenig Schwefelkies in seinem Stollen abgebaut werden konnte.
Die geregelte Verteilung der Löhne war ebenfalls ein Punkt, den er unterstrich. Wie oft hatte seine Familie die Nachbarn um Hilfe bitten müssen, weil der Lohn wieder nicht pünktlich gezahlt worden war. Und wie oft war es im ganzen Bergarbeiterhaus zu Engpässen gekommen, sodass niemand dem anderen helfen konnte, weil alle unter dem gleichen Problem zu leiden hatten? Als Josef bemerkte, wie seine Hand sich um den Stift verkrampfte, ging er schnell zum nächsten Punkt über, den er finden konnte:
Die Anlegung von Badeeinrichtung war ebenfalls ein langersehnter Wunsch. Dabei ging es ihm gar nicht so sehr darum, sauber nach Hause gehen zu können. Die Verletzungen, die sich jeder Arbeiter im Bergwerk mal zuzog, bluteten oft. Doch die Reinigung der Wunden war ohne fließendes, sauberes Wasser ein großes Problem. In Gedanken strich Josef über seine linke Hand, die er sich im Sommer verletzt hatte, als er abgerutscht war. Damals hatte sich die Wunde entzündet. Zum Glück hatte Paul ihn schnell versorgen können, sonst hätte er vermutlich keine Narbe mehr, sondern eine Hand weniger. Wie hätte er der Grubenverwaltung dann noch nützen können?
Klebriger Husten schüttelte den Vater. Es fühlte sich an, als würde der gesamte Staub der letzten Jahre aus ihm heraus wollen, was ihn dazu brachte, einen weiteren Punkt nicht nur anzustreichen, sondern auch zu umkreisen: "Die Anlegung von Luftschächten zur besseren Bewetterung der Gruben." Warum nur musste es solch eine Forderung überhaupt geben? Man könnte meinen, die Verwaltung wolle gesunde, kräftige Mitarbeiter. Und in anderen Gruben funktionierte es doch auch!
Die Lieferung des Gezähes, also des Handwerkszeugs, wenn es verschlissen war, war ein weiterer Punkt, den Josef nicht verstand. Man sollte doch meinen, dass die Verwaltung möglichst viel aus den Gruben rausholen wollte und das ging nur mit funktionstüchtigen Werkzeugen. Dass sie dafür auch noch bezahlen mussten, war eine Frechheit an sich.
An einen weiteren Punkt hatte Josef nicht mehr gedacht. Die Gewerkschaft wollte auch die Sperre aufheben lassen, die verhinderte, dass Bergarbeiter die Gruben wechseln durften. Nun gut. Für ihn selbst war der Wechsel nicht so wichtig, doch für manche anderen Mitarbeiter wäre ein Wechsel schon nötig gewesen, da sie so bessere Arbeitsbedingungen gehabt hätten, wie etwa Josefs Nachbar Paul, dem es in ihrer Grube schon lange nicht mehr gefiel.
"Komm ins Bett.", sagte Anna. Völlig übermüdet, aber doch voller Hoffnung stand der Bergarbeiter auf und folgte seiner Frau ins Schlafzimmer, die Kinder schliefen bereits.

Im Büro des Bergrats Haas in Siegen:
"Bist du dir sicher?", fragte Haas den Betriebsführer Fuhr. "Natürlich! 125 Männer haben gekündigt! Ich habe kaum noch einen Mann, der unter Tage arbeitet. Wie soll ich denn jetzt Umsatz machen?"
Beschwichtigend hob Haas die Hände: "Immer mit der Ruhe, sie werden zurückkommen. Ohne Lohn kein Essen. Und selbst wenn einige von ihnen eine neue Arbeit finden: Einen Lohn von mehr als vier Euro pro Stunde werden sie woanders nicht bekommen. Die kommen schnell zurück. Zur Not ziehen wir eben fremde Arbeiter heran."
Tatsächlich wurden dem Betriebsführer 300 Arbeiter aus dem Ausland angeboten, die allesamt in einer Menage untergebracht werden sollten. Die Bedingung jener war weitaus schlechter als die der deutschen Arbeiter. Und dennoch nutzte die Gewerkschaft Sachtleben diese Arbeiter, um die Verluste einzudämmen.
Am 1.2.1911 begann der Streik. Nur 22 deutsche Arbeiter waren tatsächlich erschienen.

Am 5.4.1911 entschlossen sich die Gewerkschaften Sicilia und Sachtleben, ein Flugblatt herauszugeben, in dem sie ihre Sicht der Dinge schilderten. Vor allem gegen die höheren Lohnforderungen fanden sich einige Beispiele und Gründe, die die Gewerkschaften gegen eine Lohnerhöhung stellten. So sollte ein Schichtlohn von 4,50 Mark viel zu hoch sein, da andere Ausgaben der Gewerkschaft angeblich ebenfalls das erwirtschaftete Geld stark reduzierten. Dass einige Hauer, die nicht so viel schafften wie die in anderen Teilen der Gruben, weniger Geld bekamen, legitimierten die Gewerkschaften mit der Begründung, dass ja auch schwache Menschen bei Ihnen arbeiteten, die nicht genug einbringen würden. Damit luden sie die Schuld auf die Schultern der Arbeiter ab. Auch wehrten sie sich dagegen, selbst die Kosten für neue Arbeitsmaterialien zu tragen, da sie der Ansicht waren, dass die Bergarbeiter so besser mit den Materialien umgingen. Desweiteren könnten die Gewerkschaften keine Garantie geben, dass sie die früheren Arbeiter wieder einstellen könnten, die sich zu der Zeit im Streik befanden. Begründet wird diese Aussage allerdings nicht. In der Zeit des Streiks wurden die Streikenden finanziell durch den christlichen Gewerksverein gestützt, doch nach drei Monaten hatte auch dieser keine Mittel mehr, um den Streik aufrecht zu erhalten:

"Diese Bastarde!", rief Josef aus und zerriss das Flugblatt in Fetzen. "Drei Monate Streik und nichts hat sich gebessert." Erschöpft vergrub er sein Gesicht in den rissigen Händen. Seine Kinder waren still geworden, Anna weinte. Jonas, der Älteste und sein Vater waren bei der Gewerkschaft gewesen, da der Streik beendet worden war. Sein Vater hatte seine alte Stelle zurückerhalten, er nicht. Jetzt fehlte der Familie nicht nur ein Monatslohn, der Vater verdiente immer noch so wenig wie vorher. Und doch gab es einen kleinen Lichtblick: Jonas würde nun beim Bäcker in die Lehre gehen. Doch wieder plagte Josef dieser schreckliche Husten, der ihn allmählich schwächer werden ließ.

In den Jahren von 1912 bis ins Kriegsjahr 1914 versuchten die Gewerkschaften, die Arbeitsbedingungen zu verbessern. 1912 wurde eine neue Aufbereitung gebaut, ein Jahr später kam ein Schüttelherd hinzu, der die Arbeit ebenfalls erleichterte. Ein neuer Ventilator sorgte zumindest etwas für frischere Luft in den Stollen. Im Jahre 1914 wurde eine neue Satzung bei der Gewerksversammlung beschlossen: Die Gewerkschaften durften sich schließlich doch verbinden. Nur fünf Monate später begann der erste Weltkrieg und mit ihm kamen ganz andere Probleme.