von Anne Schaffranek

Am 1. Dezember 1943 machte der Zweite Weltkrieg Halt im Oberbergischen Land. Um 11: 50 Uhr erreichte das Dieringhauser Elektrizitätswerk folgende Meldung: „Achtung! Starker Feindverband kreist im Raum Gummersbach – Waldbröl. Achtung vor Notwürfen!“. Knapp zehn Minuten später fielen die ersten Bomben im Oberbergischen Kreis.

Ungefähr zwei Stunden zuvor waren in Südengland über 300 Bombenflugzeuge der achten US-Luftflotte sowie mehr als 400 Jagdmaschinen, die während des Luftangriffs feindliche Flugzeuge abwehren sollten, zum Abflug bereit gemacht worden. Ziel des Angriffs waren die Städte Leverkusen und Solingen, die zwischen ca. 12:00 Uhr und 12:15 Uhr erreicht werden sollten. Schon bei der Zusammenkunft der Flieger in der Luft über Südengland fielen rund 100 Flugzeuge aus, da diese den Treffpunkt aufgrund des schlechten Wetters nicht ausmachen konnten, sodass schließlich insgesamt 275 Bombenflugzeuge die deutsche Grenze überflogen.
Deutsche sogenannte Abfangjäger versuchten die feindlichen Flugzeuge auseinander zu treiben und abzuschießen oder zu sprengen, um sie so daran zu hindern, an ihren vorgesehenen Zielen einzutreffen. Trotzdem konnten die meisten Bombenflugzeuge ihre Fracht über Solingen abwerfen. Da die nach Leverkusen gesandten „Pfadfinderflugzeuge“, die die Vorhut bildeten, ihr Ziel verfehlten, schlossen sie sich ihren anderen Flugzeugen an und bombardierten ebenfalls Solingen.

Einige der Bombenflugzeuge wurden jedoch von deutschen Jägern abgedrängt, sie konnten die Bomben nicht auf ihre eigentlichen Ziele fallen lassen, wollten jedoch schneller und besser zu manövrieren sein, um den Deutschen zu entkommen. Dies war nur durch den ungezielten Abwurf der Bomben möglich, sodass um 11:50 Uhr die Bombenwarnung die Bevölkerung des Oberbergischen Landes in die Keller und Bunker trieb. Auch das Dorf Marienhagen in der Gemeinde Wiehl wurde Zufallsziel der Angreifer. Friedhelm Fuchs, zum Zeitpunkt des Bombenabwurfs 13 Jahre alt, erinnert sich an den 1. Dezember 1943:

Herr Fuchs, wo waren Sie am 1. Dezember, als Sie die Bombenwarnung hörten?

Die Schule war schon zu Ende, ich war wie üblich mit einigen Schulkameraden nach Unterrichtsende zu „Küpers“, Dorfladen und Gastwirtschaft, gegangen. Dort warteten wir auf Post von angehörigen Soldaten. Weil alle warteten, wurde vor dem offiziellen Austeilen schon unter der Hand Post in der Gastwirtschaft verteilt. Dann hörten wir plötzlich ein lautes Dröhnen, die Postausgabe wurde unterbrochen und alle liefen nach Hause. Eine eigentliche Bombenwarnung war bei uns also nicht angekommen, dafür ging auch alles zu schnell.

War das Dröhnen der Flugzeuge für Sie ein alltägliches Geräusch, sodass Sie sich gar nicht sorgten?

Naja, alltäglich war das nicht, kam aber zu der Zeit öfter vor. Zu Beginn des Kriegs bis ca. 1941 erfolgten Bombenangriffe fast ausschließlich nachts durch Engländer. Da lagen wir schon mal wach und hörten über einen längeren Zeitraum Flugzeuge in der Ferne, die sahen wir aber kaum als Bedrohung, eher als Störung. Wir Kinder konnten stundenlang nicht schlafen. Erst ab ungefähr 1941/1942 kam es auch tagsüber öfter zu Bombenangriffen, als die Amerikaner in den Krieg eintraten. Die bombardierten dann gezielt die deutsche Industrie. Wir waren also Flugzeuggeräusche am Tag gewöhnt, allerdings nicht so laut und nah wie am 1. Dezember 1943.

Hatten Sie einen Schutzraum für die Fälle eines Bombenangriffs?

Nein, einen eigentlichen Schutzraum hatten wir nicht, wir sind in den Keller gegangen, meine Mutter, meine Schwestern, mein Vater, unser Russe und ich.

Ihr Russe?

Ja, unser Russe Mischa. Er war ein Kriegsgefangener, der in unserem landwirtschaftlichen Betrieb half, ein sogenannter Fremdarbeiter. Er erklärte mir, wie ich mich während des Bombenabwurfs verhalten sollte, er riet mir, die Ohren zuzuhalten und den Mund zu öffnen, damit mein Trommelfell nicht platzte, es war schließlich ungeheuer laut.

Wie lange dauerte der Bombenabwurf? Hatten Sie Angst oder war Ihnen die akute Gefahr gar nicht bewusst?

Wir hörten ungefähr eine Viertelstunde lang das ohrenbetäubende Heulen und Krachen der Bombenflugzeuge. Weil Sie wegen der angreifenden deutschen Jäger so niedrig flogen, verstärkte sich der Lärm noch. Natürlich hatte ich Angst. Wir hatten davor schon Bombenabwürfe erlebt, aber eben aus der Ferne. Niemand interessierte sich für unser Dorf, große Städte waren Ziele der Alliierten. Aber diesmal war es anders. Es war nicht in der Ferne oder in den Zeitungen, sondern direkt über uns. Das war ein sehr beängstigendes Gefühl. Insgesamt waren es circa 15 Minuten, es kam uns allen natürlich aber länger vor. Wir sind dann noch ein bisschen im Keller geblieben, bis wir uns sicher sein konnten, dass sie wirklich weiter geflogen waren.

Gab es Tote?

Nein, hier in Marienhagen kam niemand zu Tode. Auch der Sachschaden blieb relativ gering. Da das Wetter so diesig war, hatten die Angreifer völlig ungezielt abgeworfen und so, Gott sei Dank, oft nur umliegende Felder getroffen. Um das Pfarrhaus herum waren drei Blindgänger in der Erde niedergegangen, jemand scherzte, Marienhagen müsse einen besonders frommen Pastor haben. Der einzige Verletzte war ein Freund von mir. Manche Brandbomben waren nicht explodiert, man konnte die Zünder entfernen. Einer der Zünder war allerdings noch scharf und mein Freund schlug mit der Hand drauf. Es gab eine Explosion und meinem Freund musste im Lazarett von Drolshagen ein Teil der Hand abgenommen werden.

Was haben Sie nach dem Bombenangriff gemacht?

Unmittelbar nach dem Angriff sind wir Jungen ins Nachbardorf Hunsheim gelaufen, weil wir gehört hatten, dass dort zwei Häuser brennen. Auch die Kirche dort war komplett zerstört worden. Dann mussten wir für ein paar Tage unsere Häuser verlassen, schließlich musste das Bombenräumkommando die Blindgänger, die in der Nähe unseres Hauses niedergegangen waren, freilegen und entschärfen. In den darauf folgenden Monaten mussten alle mit anpacken.

Was gab es für Aufgaben?

Nun, allein auf den Grundstücken meiner Familie waren zehn große Bombentrichter entstanden. Die abgeworfenen Sprengbomben waren sogenannte „Wohnblockknacker“, die mit Verzögerung explodierten und dadurch in den Wiesen und Feldern große Trichter, die am oberen Rand bis zu acht Meter Durchmesser maßen, verursachten. Unsere Nebentätigkeit war nun, die Trichter „zuzuschmeißen“, also sie mit Erde zu füllen. Die geleisteten Stunden haben wir aufgeschrieben, der Staat wollte sie später entschädigen, dazu ist es leider nie gekommen. Vor dem 1. Dezember hatten wir Jungen übrigens Spaß daran, herumliegende Bombensplitter zu sammeln, das war etwas besonderes. Nach dem Bombenabwurf über unserem Dorf hatten wir so viele Splitter, dass wir sie als Müll weggeschmissen haben.

In einem Bericht aus der Schulchronik der Grundschule Marienhagen berichtet Lehrer Nusch vom Bombenabwurf am 1. Dezember 1943. Der Lehrer war auch Sturmgruppenführer der SS gewesen und durfte nach Kriegsende nicht mehr als Lehrer unterrichten.

1.12.43. Am 1. Dezember, mittags 12 Uhr erlebte die Schulgemeinde einen schweren Fliegerangriff, der sich glücklicherweise infolge des sehr diesigen Wetters hauptsächlich in Feld und Wald auswirkte, wo er wohl beträchtlichen Flurschaden anrichtete, aber Menschenleben schonte. Innerhalb der Schulgemeinde sind rund 500 schwere Sprengbomben und über 800 Brandbomben abgeworfen worden. [Anmerkung Friedhelm Fuchs: Da hat er etwas hoch gegriffen, es waren bestimmt nicht mehr als die Hälfte.] Ob mit Absicht oder im Notwurf kann natürlich nicht festgestellt werden, jedenfalls kamen die Flieger sehr tief und waren in einen schweren Luftkampf mit deutschen Jägern verwickelt. Im Orte Marienhagen sind glücklicherweise wenig Bomben explodiert, dafür aber sieben Stück als Blindgänger tief in die Erde eingedrungen. Die eine saß mitten in der Straßenkurve beim alten Brunnen, die andere war im Hof der Geschw. Fuchs direkt an der Scheunenwand eingedrungen, und eine dritte war am Pastorat unter den Schuppen gedrungen. Die übrigen waren auch in der Nähe von Häusern in die Erde gesaust, und der Ort hat sehr viel Glück gehabt, denn wären diese sieben auch krepiert, dann wären wohl manche Menschenleben zu beklagen gewesen und eine Reihe Häuser wären zertrümmert worden. Die allermeisten Bomben waren fünf ctr schwere Sprengboben. So blieb es bei vielen Beschädigungen an Dächern und Fensterscheiben. Durch die vielen Blindgänger, die natürlich auch Zeitzünder sein konnten, mußten 28 Familien ausquartiert werden und konnten außer der Familie Carl Will, die nach Morkepütz zu den Eltern zogen, im Dorfe untergebracht werden. Die schwersten Beschädigungen mußte das Dorf Pergenroth erleiden. Das Haus des Otto Schuffert wurde fast ganz zertrümmert, nur das Treppenhaus und ein Zimmeranbau blieben stehen. Eine etwas abseits stehende Scheune wurde ebenfalls zerschlagen, dagegen blieben die Ställe stehen, so daß das Vieh gerettet wurde. 8 schwere Bomben waren so dicht nebeneinander eingeschlagen, daß man auch hier von einem Glückszufall sprechen kann, daß keine Menschenleben zu beklagen sind. Ein sonderbarer Glücksfall verdient hier festgehalten zu werden. Der Milchfuhrmann Wollenweber aus Marienhagen hält mit seinem Wagen oberhalb des Dorfweiers zum Aufladen der Kannen, als der Angriff kommt. Er selbst kann noch in das Haus Berz hineinspringen, sein Pferd und Wagen bleiben stehen. Direkt neben dem Pferd schlägt eine Bombe in die weiche Wiese, reißt einen gewaltigen Trichter und überschüttet Pferd und Wagen mit Massen von Erde und Schlamm, direkt hinter dem Pferd wird die Deichsel Des Wagens beschädigt, im übrigen bleiben Pferd und Wagen heil. Der Fuhrmann hat nachher Mühe gehabt, das Pferd aus dem Dreck herauszubekommen, weil 1 m vor dem Pferd auf der anderen Straßenseite auch eine Bombe eingeschlagen war und die ganze Straße mit Erde überschüttete, so daß sie nicht mehr passierbar war. Der Arbeitsdienst hat nach einigen Tagen die Straße wieder freigelegt. Im anderen Ortsteil waren nur Dächer beschädigt und Scheiben zertrümmert. Schwere Schäden an Gebäuden sind da nicht entstanden. Dagegen hat ein Schüler der Oberstufe, Karl Heinz Kaufmann, der gerade in seinen selbstgebauten Splitterschutzgraben laufen wollte, einen Bombensplitter an den rechten Oberarm abbekommen, und ihm eine starke Fleischwunde gerissen. Glücklicherweise war der Knochen nicht verletzt, so daß er nach 3 Wochen wieder geheilt war. Schwere Schäden hat in Alferzhagen die Siedlung gehabt, wo die Häuser oberhalb des Weges fast alle abgedeckt waren, weil zwei Sprengbomben direkt hinter den Häusern in den Gärten eingeschlagen waren. Die Familie Rinker mußte das Haus räumen und wurde in einer Werkswohnung der Firma Krawinkel in Vollmerhausen untergebracht. Der übrige Ort Alferzhagen hat sehr wenig Schäden gehabt. Der einzig Sprengtrichter war hinter dem Haus Hermann Schmitz, früher Carl Gries über dem Garten auf der Weide. Garten und Haus waren dadurch beschädigt, das Haus aber nur leicht. Zu Merkhausen sind auch einige Bomben in die Nähe der Häuser gefallen, aber größere Schäden sind auch hier nicht entstanden, und in Kurtensiefen ist keine Bombe gefallen; so daß man wohl sagen kann, daß im Verhältnis zu der Anzahl gefallener Bomben im Ganzen gesehen, der Schaden sehr gering war und kein Menschenleben und kein Vieh gekostet hat. Der Angriff hat etwa 12-15 Minuten gedauert, die Schüler waren nach Hause gelaufen, weil kein vorschriftsmäßiger Luftschutzkeller in der Schule eingerichtet ist.
Nachdem der erste Schrecken überstanden war, ging es gleich an die Ausbesserung der Schäden. Dabei hat sich in Marienhagen unter der beispielhaften Führung des derzeitigen Zellenleiters [ Anmerkung: Name entfernt] eine Volksgemeinschaft gezeigt, die vorbildlich genannt werden kann und als Ergebnis einer langjährigen politischen Schulung im Nationalsozialismus desselben Führers angesprochen werden muß. Diese vorbildliche Volksgemeinschaft war so groß, daß Kreisleiter und Landrat, die nach 2 Tagen zur Besichtigung erschienen, meinten, in Marienhagen sei wohl nichts passiert; dabei waren über 30 Dächer ausgebessert und mehr als 10 ganz neu gedeckt worden. Sogar Frauenkolonnen bildeten sich, als es anfing zu regnen, um die Dächer wieder dicht zu bekommen und aus den gefährdeten Häusern wurden sogar viele Möbelstücke von Frauen unter Einsatz ihres Lebens geborgen. Auch Hitlerjugend und Jungvolk hat sich bewährt, so hat die Mädelschar unter Führung von [Name entfernt] außerordentlich fleißig und selbstlos richtig geschuftet, u die Häuser wieder wohnlich zu machen, und die Jungvolkschar unter [Name entfernt] hat auf Straßen und Dächern in den Trümmern und wo es immer notwendig war zugepackt wie die Männer. Es konnten deshalb mehrere Jungen und Mädels dem Kreisleiter für Auszeichnungen vorgeschlagen werden. Der Arbeitsdienst wurde herangeholt, um die Straßen wieder fahrbar zu machen, er hat mit 50-100 Mann bald 4 Wochen zu tun gehabt, und ein Sprengkommando hat einige Wochen lang die Blindgänger ausgegraben. Für all diese Leute mußte gekocht werden, da war es wieder die Frauenschaft unter Leitung von Frau [Name entfernt] und Frau [Name entfernt], die Küchen einrichteten und kochten, und die Volksgemeinschaft spendete Gemüse und die N.S.V. Schaffte Fleisch und Lebensmittel heran, so daß Arbeitsdienst wie Sprengkommando am liebsten in Marienhagen geblieben wären wegen des guten Essens. Man kann nicht sagen, daß sich irgendeiner ausgeschlossen hätte, so daß zum Weihnachtsfeste festgestellt werden konnte, daß gerade die Notzeit die Menschen noch viel fester zusammengeschmiedet und einander näher gebracht hat.

Das Oberbergische Land wurde vom Bombenangriff am 1. Dezember schwer getroffen. Allein in Gummersbach gab es 16 Tote, in den umliegenden Gemeinden insgesamt 18 Tote. Häuser wurden zerstört, Wälder in Brand gesetzt. Anschließend wurden im gesamten Oberbergischen Kreis Schutzbunker errichtet, um weitere Verluste bei zukünftigen Bombenabwürfen zu verhindern.

Quellen:
Tieke, Wilhelm: Bis zur Stunde Null. Verlag Gronenberg, 1985.
Schulchronik der Schulgemeinde Marienhagen