Zur Darstellung des Ersten Weltkriegs in der "Siegener-Zeitung"

von Marco Schneider

Vielfach als Ur-Katastrophe des letzten Jahrhunderts bezeichnet, stellt der Erste Weltkrieg sicherlich eine der bedeutendsten Zäsuren in der jüngeren Geschichte dar. Besonders die Darstellung der „Heimatfront“ in Geschichtsbüchern und Magazinen richtet ihr Augenmerk häufig auf das Leben in größeren Städten wie etwa Berlin, Hamburg oder München. Wie sieht die Situation jedoch abseits der großen Metropolen aus?

War auch hier die Stimmung von Kriegsbegeisterung und Euphorie getragen? Wie zeigt sich der Große Krieg in einer kleinen westfälischen Provinzzeitung? Einen Blick in die Siegener Zeitung der Jahrgänge 1914 bis 1918 ist hierbei durchaus interessant, aufschlussreich und bisweilen, da wir es als spätere Betrachter natürlich besser wissen, auf eine gewisse Art und Weise tragikkomisch.

Vorweg sollte zunächst kurz gesagt werden, dass die „Siegener Zeitung“ keine eigenen Berichterstatter im Frontgeschehen hatte und deshalb auf die offiziellen Meldungen der deutschen Stellen angewiesen war. Von daher schert auch die Siegener Zeitung nicht aus der allgemeinen Kriegsbegeisterung im deutschen Blätterwald aus. Die Hochstimmung und das Vertrauen auf einen schnellen und selbstverständlich erfolgreichen Kampf des deutschen Heeres ist auch in der „Siegener“ allgegenwärtiges Thema: Siegesgewisse „Abschiedsgrüße an unsere Lieben Streiter“, Einladungen zu „Kriegsgebetsstunden“ und der in fast allen deutschen Zeitungen verbreitete Aufruf des „Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ an die deutschen Juden, zu den  Fahnen zu eilen ? zu Beginn der Auseinadersetzungen ist die patriotische Hochstimmung im Blätterwald allgegenwärtig und scheinbar überwältigend. Kritische und mahnende Stimmen lassen sich nicht finden. Gekoppelt mit dem Vormarsch der kaiserlichen Armee im Westen sind die Schlagzeilen voll mit Meldungen über die großen Erfolge an diesem Kriegsschauplatz, für die durchaus prekäre Situation im Krieg der Mittelmächte (= Österreich-Ungarn und Deutschland) mit Russland sind dagegen zunächst keine Zeilen im Aufmacher reserviert. Am 29. August 1914 heißt es in der Schlagzeile zur Beschwichtigung: „Keine Beunruhigung im Osten“. Nachdem es jedoch gelungen war, das deutsche Vordringen im Westen an der Marne zu stoppen und sich die Front zum Stellungskrieg verfestigte, wird auch die Stimmung in der Zeitung gedämpfter. Besonders bizarr wirkt in diesem Zusammenhang eine Anzeige, die mit den Worten „Esset Bananen, das vorteilhafteste, gesundeste, nahrhafteste Obst! Kein Obst-Detail-Geschäft sei ohne Bananen! Bananen, die Früchte der Zukunft!“ wirbt. Seit Mitte September ? die Auswirkungen der englischen Seeblockade sind immer deutlicher zu spüren ? hört die Schaltung der Anzeige urplötzlich auf und wird zu keinem Zeitpunkt des Krieges mehr aufgegriffen. Der Mangel an kolonialen Exportwaren ist nicht zu übersehen. Die erste Gefallenenanzeige eines Siegerländer Soldaten vom 19. August 1914 indessen stellt nur den Auftakt für zahlreiche Nachrufe auf gefallene Kameraden, Ehemänner, Väter, Söhne und Freunde dar. Bereits zu Beginn des zweiten Kriegsmonats sind bis zu fünf Todesanzeigen für den „Heldentod“ gestorbenen Kämpfer pro Ausgabe keine Seltenheit mehr. Von da an bis zum Ende des Krieges ist dies kein ungewohnter Anblick mehr für die Siegerländer Bevölkerung.

 Das Veröffentlichen von Feldpostbriefen zur Stärkung der Moral in der Heimat und zur Gewährung eines Einblicks in den Soldatenalltag können nicht über das blutige Geschäft des Krieges hinwegtäuschen. Zwar wird in den abgedruckten Briefen nicht explizit und wörtlich auf die Gräuel des Kampfes eingegangen; zwischen den Zeilen ist jedoch schnell zu lesen, dass die anfängliche Hochstimmung schon länger der Realität eines Krieges gewichen ist. Und schon allein ein Blick auf die Gefallenanzeigen der „Siegener“ verrät etwa anderes…

„…GAS!“ – wohl einer der schlimmsten Rufe, die ein Soldat im Ersten Weltkrieg zu hören kriegen konnte. Der Einsatz von chemischen Kampfstoffen machte mit relativ wenig Aufwand das Ausschalten großer Truppenverbände möglich und endete nicht selten mit starken gesundheitlichen Schäden oder einem elenden Tod. Nicht nur deswegen ist der Gebrauch derartiger Stoffe schon vor dem Krieg durch die Haager Landkriegsordnung (1899/1907) verboten worden. Der Bruch dieses Vertrages durch die erstmalige Verwendung solcher Kampfmittel seitens der Deutschen im Frühjahr 1915 wurde geschickt zu verschleiern versucht. Nur allzu verständlich, da sich ein solches Verhalten, auch vor der eigenen Bevölkerung, nur schwer rechtfertigen ließ. Interessant ist es zu sehen, wie in den Artikeln der Siegener Zeitung erst Stück für Stück und nur lückenhaft der Einsatz dieser neuen Waffe eingeräumt wird. Die erstmalige Verwendung am 11. April 1915 bei Ypern wird überhaupt nicht erwähnt; erst eine Woche später wird vom Einsatz vermeintlicher „Stinkbomben“ in der Zeitung berichtet. Die offiziellen Mitteilungen der Obersten Heeresleitung geben keine klaren Antworten auf die von der Entente (= Frankreich, Russland und Großbritannien) gemachten Vorwürfe. Vielmehr wird versucht, dem Feind diesen Schuh anzuziehen und ihm seinerseits den Gebrauch von Gas vorzuwerfen. Durch das Abdrucken ausländischer Nachrichtenartikel, so etwa aus schweizerischen und italienischen Zeitungen, deren Kriegsberichterstatter die Verwendung chemischer Kampfmittel seitens der Deutschen bestreiten, möchte man sich vom Vorwurf barbarischer Kriegsmethoden lossagen. Überraschend ist daher die Veröffentlichung englischer und französischer Berichte, in denen Augenzeugen vom schrecklichen Geschehen unter feindlichem Gas berichten (27. April 1915). Dosiert und immer nur mit wenigen Sätzen, zuerst noch indirekt durch einen schwedischen Pressebericht, später dann aber auch in eigenen Mitteilungen wird der Einsatz der Waffen eingeräumt. Am 3. Mai sind aus den vermeintlichen „Stinkbomben“ dann der Realität um einiges näher kommende „Stickgase“ geworden.

Die inserierenden Einzelhandelsgeschäfte der Siegener Geschäftswelt greifen den Krieg indessen in ihren Werbeanzeigen auf. Ein Siegener Kamera- und Fotografie-Geschäft wirbt etwa mit der Abbildung eines Soldaten und der Bildunterschrift „Die besten Erfolge sichern meine Photo-Apparate und Zubehör“ für seine Dienstleistungen, selbstverständlich, so soll die Werbung vermitteln, in derart guter Qualität, dass sie sich auch an der Front auszeichnen würde. Den gleichen Gedanken greift auch eine Zigarettenwerbung auf, die mit Darstellungen aus Schützengräben glückliche Soldaten beim Rauchen ihrer Zigaretten zeigt. „Eitel Freude und Sonnenschein herrscht im Schützengraben, wenn die Feldpost echte SalemAleikum oder SalemGold Zigaretten bringt“, lässt sich aus der Anzeige ablesen. Das Werben für Prothesen sowie Grabschilder und Trauerartikel wirkt auf den heutigen Leser mehr als makaber ? so versuchte so mancher, aus dem grausamen Treiben noch seinen persönlichen Profit zu ziehen.

Das Erscheinungsbild der Zeitung stellt sich mit Verlauf des Krieges im Großen und Ganzen als zunehmend unverändert dar. Diverse Schlagzeilen über eigene Erfolge und gegnerische Niederlagen bzw. deren niederträchtiges Verhalten, Mitteilungen zu Lebensmittelausgaben in der Stadt Siegen sowie die allgegenwärtigen Gefallenenanzeigen prägen das Bild der „Siegener“. Feldpostbriefe über das abenteuerreiche Soldatenleben werden mit zunehmender Kriegsdauer immer seltener veröffentlicht. Fast schon penetrant erscheinen dagegen Anzeigen, die zum Spenden von Finanzmitteln und Wertsachen aufrufen. So wird im Jahr 1918 etwa in jeder Ausgabe versucht, der leidenden Bevölkerung die Zeichnung weiterer Kriegsanleihen und die Abgabe von Edelsteinen und Schmuck schmackhaft zu machen. „Alles Gold, aller Goldschmuck gehört jetzt dem Vaterlande!“ - „Wer wünscht nicht, daß 1918 den Frieden bringen möge, trage auch du dazu bei. Opfere deine Perlen und Edelsteine auf dem Altar des Vaterlandes!“

Die Aufrufe zur Zeichnung der achten Kriegsanleihe (Frühjahr 1918) sprechen eine ähnliche Sprache: „Es braußt ein Ruf wie Donnerhall durch alle deutschen Lande! Von heute an gibt es nur einen Willen, ein Pflicht: Kriegsanleihe zeichnen!“ - „Auch Du hast noch Geld genug, das Du Deinem Vaterlande leihen kannst. Jeder zurückgehaltene Pfennig verlängert den Krieg. Jede Stunde Krieg bedeutet weitere Opfer an Gut und Blut. Zögere nicht, Zeichne!“ - „Erfolg der Anleihe heißt Erfolg der Waffen. Erfolg der Waffen heißt - - - - Frieden! Darum Zeichne!“  Gepaart sind die Aufrufe mit einer kleineren Anzeigenserie, die mit der markigen Überschrift „Deutsche Worte“ ebenfalls für die Anleihen wirbt. Zu Begriffen wie Saat, Treue, Grenzwacht, Ausdauer oder Wille wird nach einer kurzen patriotischen Erläuterung dieser Worte jeden Tag auf's neue für das Zeichnen der Anleihen geworben. Dass es nach vier Jahren entbehrungsreichen Kampfes nicht mehr viel zu spenden gab, liegt auf der Hand. Inwiefern die Menschen den patriotischen Aufrufen noch Glauben schenken, lässt sich nur spekulieren; dass es im Deutschen Reich eine zunehmende Kriegsmüdigkeit gab, ist dagegen nicht zu bestreiten und aufgrund der vorausgegangenen Jahre vollauf verständlich.

Mit dem Beginn der deutschen Frühjahr-Offensive im März 1918 wird sich die Hoffnung auf ein baldiges Kriegsende noch einmal verstärkt haben. Vom unaufhaltsamen deutschen Vormarsch im Gebiet der Somme ist die Rede, und unter der Überschrift „Drei Monate deutscher Offensive – die Erfolge eines Vierteljahres“ werden den Siegerländern Mitte Juni die Leistungen der letzten Monate, 2120 Gefangene, 8000 erbeutete Maschinengewehre sowie 2800 Geschütze und der Gewinn von 6820km² Boden präsentiert, nicht ohne darauf hinzuweisen, dass alliierte Bemühungen mit der Einnahme 516 km² „völlig zerstörten, wertlosen Gebietes“ belohnt worden sind. Dass den kaiserlichen Truppen der entscheidende Durchbruch nicht gelungen ist, wird nicht erwähnt, dass das Heer die Grenze der Leistungsfähigkeit überschritten hat, war damals nur den Generälen bewusst. In knapp fünf Monaten würde der Krieg zu Ende sein ? allerdings mit einer deutschen Niederlage. Die Schlagzeile vom 4. April des Jahres 1918, bezogen auf eine gerade währende Kampfpause, fasst das Ringen im Stellungskrieg der vergangenen vier Jahre für den heutigen Leser in passendem Wortlaut  zusammen; nach den immer gleichlautenden Meldungen lässt sich sicherlich sagen: „Vom Schlachtfelde in Frankreich nichts Neues“.