von Steffen Platte

Am 14. September 1941 war der Himmel über Niederheuslingen und den umliegenden Dörfern reichlich bewölkt und grau. Seit den frühen Morgenstunden fielen immer wieder in regelmäßigen Abständen kleinere Regenschauer. Es war Sonntag, weshalb die für diese Jahreszeit übliche Kartoffelernte ruhte.

Die ansässige Bevölkerung vertrieb sich die Zeit wie an jedem Wochenende (trotz des Krieges) mit Verwandtschaftsbesuchen in anderen Ortsteilen oder kleineren Arbeiten rund um's Haus. Am frühen Nachmittag kamen in Heuslingen und den unmittelbar angrenzenden Siedlungen Gerüchte über einen Flugzeugabsturz in der Nähe auf. Immer mehr Menschen versammelten sich auf den Straßen, um in Erfahrung zu bringen, was vorgefallen war.

Gegen 13 Uhr hatte sich eine JU 52 der Luftwaffe von Kolberg/Ostsee (heute Kolobrzeg, Polen) dem Luftraum über dem so genannten „Heuslingsgrund“ genähert. An Bord: drei Generäle der Wehrmacht mit dem Ziel Paris. Bereits kurz zuvor hatte der Pilot technische Probleme an der Maschine entdeckt. Etwa über Oberheuslingen entschied er sich gegen einen Weiterflug nach Heidelberg, dem vorläufigen Flugziel, und beschloss, auf einem freien Feld notzulanden. Während des Tiefflugs entdeckte er im letzten Moment die Dächer Niederheuslingens im Tal. Um dort mit der relativ großen Transportmaschine nicht abzustürzen, wendete er um 1800 und kam auf freiem Feld an den Tannen der Steinrutsche oberhalb der Ortschaft zum Stehen. Keiner der Insassen wurde verletzt, doch das Flugzeug trug einen nicht unerheblichen Schaden davon.

Unter den Menschen, die an jenem Nachmittag zum Ort der Notlandung strömten, war auch Wilhelm Loos mit seinem Sohn. Da er bereits ein Auto besaß, fuhr er die drei Generäle, die einen Termin in Paris wahrzunehmen hatten, nach Kassel. Sie setzten ihre Reise von dort aus per Bahn fort.

Die verbliebene Besatzung, der Pilot (Feldwebel) und ein Funker (Leutnant), begab sich daran, das Flugzeug für einen baldigen Rückflug nach Kolberg wieder instand zusetzen. Aus diesem Grund wurden die beiden bei Familie Bender (Hausname: Herme) im Dorf unmittelbar unterhalb des Landungspunktes einquartiert. Dies bedeutete jedoch, dass die Transportmaschine mangels einer adäquaten Startbahn von einem freien Feld aus würde starten müssen. Wem die Idee oder gar der Befehl zu einem solchen Unternehmen zuzuschreiben ist, konnte leider nicht mehr hinreichend geklärt werden.

Als Startpunkt für die waghalsige Aktion wurde der so genannte „Roland“, der höchste Punkt des Hügels oberhalb der Steinrutsche gewählt. Im Laufe der folgenden Woche erschienen zwei große Zugmaschinen einer in der Region ansässigen Spedition, die man kurzfristig in Wiesbaden organisiert hatte, um die JU 52 den Hang hinauf auf den „Roland“ zu befördern, sowie eine Fieseler Fi 156 (genannt Storch) mit den benötigten Ersatzteilen. Trotz weiterer heftiger Regenfälle während der nächsten Tage gelang es der zweiköpfigen Besatzung und einer Mechanikerkolonne, die Maschine binnen einer Woche flugtauglich zu machen.

So herrschte genau eine Woche nach der Notlandung, am Nachmittag des 21. September, geschäftiges Treiben auf dem Roland. Von überall her waren Menschen gekommen, um dem Spektakel beizuwohnen. Viele Familien, so erinnern sich manche, brachten sogar Kaffee und Kuchen mit, den die Frauen eigens für diesen Anlass gebacken hatten. Vielerorts wurden Wetten abgeschlossen, ob es der große Vogel überhaupt schaffen würde aufzusteigen. Keiner der befragten Zeitzeugen konnte sich erinnern, jemals wieder eine solche Menschenmasse im Heuslingsgrund erlebt zu haben.

Was für die Massen der Schaulustigen zweifellos eine Attraktion darstellte, war für den Piloten und seinen Funker alles andere als ein Kinderspiel. Der „Roland“ besteht noch heute aus einem langen, relativ ebenen, zum Dorf hin etwas abfallenden freien Feld. An den Seiten wird er von dichten Tannen eingerahmt. Warum sich der Pilot der Junkers jedoch gegen einen Start über die lange Seite und zugunsten der kurzen Seite zwischen den beiden Baumbegrenzungen des Feldes entschied, ist nicht mit Sicherheit zu klären. Die einzige denkbare Annahme, durch den langen Startweg wären zu viele Nutzfelder beeinträchtigt worden, wird durch die Tatsache widerlegt, dass der letztendlich genutzte Startpunkt ebenfalls auf einem solchen Feld lag. 

Da man befürchtete, durch die Regenfälle der letzten Tage könnte der Boden womöglich zu weich bzw. zu tief sein, hatten Anwohner aus dem Hauberg massenhaft Holz besorgt und eine Rollbahn aus Planken und Bohlen bereitet.

Seit etwa 15.30 Uhr donnerten die drei Motoren der Maschine, um warmzulaufen. Gegen 16 Uhr war es schließlich soweit, und das Flugzeug rollte unter dem Jubel der winkenden Menschenmassen los. Es gewann schnell an Geschwindigkeit, doch genau diejenigen, die gekommen waren, der „Tante JU“ Lebewohl zu sagen, besiegelten schließlich ihr Schicksal. Nachdem die Maschine abhob, erlaubten die großen Menschenmassen um die Rollbahn herum dem Piloten nicht, stark genug nach links an den Bäumen vorbei zu lenken. Was blieb, war einzig der Weg geradeaus über die Wipfel der Bäume. Den Rest besorgte schließlich die Konstruktion der JU 52. Das Fahrgestell, das bei diesem Flugzeugtyp nicht einfahrbar ist, verfing sich in den Wipfeln des Kiefernwaldes. Das Flugzeug wurde ungebremst zu Boden geschleudert und fing sofort Feuer. Die zu Hilfe eilenden Löschmannschaften wurden teilweise von den panisch auseinanderjagenden Massen behindert.

Selbst die davonlaufenden Schaulustigen trafen noch immer auf zahlreiche Nachzügler, die ebenfalls kamen, um den Start mitzuerleben. Den Helfern gelang es, den Leutnant aus dem Flammeninferno zu retten. Er wurde sofort ins Siegener Marien-Krankenhaus eingeliefert, wo ihn die Familie Bender bis zu seiner Entlassung noch mehrmals besuchte. Für den Piloten kam jedoch jede Hilfe zu spät. Augenzeugen berichten, wie man seine Leiche zunächst in einer Decke in ein anliegendes Waldstück trug, um sie vor den Blicken der Schaulustigen zu schützen. Der verunglückte Feldwebel wird bei seiner Verabschiedung von Familie Bender mit den Worten zitiert: „Ich habe soeben ein Telegramm an meine Frau geschickt. Heute Abend werde ich bei ihr sein.“ Seine sterblichen Überreste wurden später in seine Heimat (wahrscheinlich Kolberg) überführt.

67 Jahre später erinnert nichts mehr an die Tragödie, die sich im Frühherbst 1941 auf dem Roland ereignete. Die Getreidefelder, die der Startbahn entlang liefen, sind zu Wiesen mit hohem Gras geworden. Die Kiefern, die der Maschine einst zum Verhängnis wurden, stehen ebenfalls nicht mehr. An ihrer Stelle recken sich vereinzelte Tannen in den Himmel. Nur ein kleiner Brunnen, der nach dem Absturz aufgrund des in den Boden gelangten Kerosins auf Jahrzehnte unbenutzbar war, ist mit etwas Fantasie noch zu erkennen.

(Die Rekonstruktion der beschriebenen Ereignisse geschah anhand von Zeitzeugenaussagen.)