von Sinan Cosgun

Mein Leben begann in der Ege-Region der Türkei. Ich bin in einer Ortschaft namens Barutcular großgeworden, in einem sehr lebhaften Haushalt mit insgesamt 13 Personen: meiner Mutter, meinem Vater, meiner Oma und zehn Kindern, sechs Mädchen und vier Jungen. Leider weiß ich viele Dinge über meine Mutter nur bruchstückhaft und dass sie schwierige Zeiten durchmachen musste. Sie wurde jung verheiratet und nach nur wenigen Jahren erkrankte ihr Mann und verstarb. Dieser Verlust traf sie so stark, dass sie selbst eine Weile im Krankenhaus verbringen musste. Sie wurde im Alter von 20 Jahren zur Witwe und heiratete fünf Jahre später meinen Vater, dessen Frau ebenfalls verstorben war. Er brachte ein Kind mit in die Ehe.

Unsere Familie war weder sehr arm noch reich: Mein Opa hatte meinem Vater Felder vererbt, auf denen wir Obst und Gemüse anpflanzten. Wir hielten einige Tiere und verkauften das, was wir übrighatten. So konnten wir unseren Lebensunterhalt unabhängig von anderen bestreiten.
Leider reichte das Geld dennoch nicht für eine weiterführende Schulbildung
, und so konnten wir nur die Grundschule besuchen. Während dieser Zeit wurde mein Vater krank und verstarb.
Zwei meiner älteren Schwestern heirateten
, und ein Bruder machte sich auf der Suche nach Arbeit, auf den Weg, ins Ausland nach Arabien. Meine Mutter blieb mit sieben Kindern allein zu Hause.

Meine Mutter wuchs ebenfalls große Teile ihres Lebens ohne Vater auf, denn dieser starb, als sie nur vier Jahre alt war. Wahrscheinlich ist sie in einem strengen Haushalt aufgewachsen, was der Grund dafür sein könnte, dass sie meist selbst sehr streng zu uns war und einen aufbrausenden Charakter hatte. Wir Kinder hatten immer Angst vor ihr. Mein Vater hingegen war ein ruhiger Mann und sprach nie viel über seine Familie. Über meinen Opa weiß ich aber, dass er wohl ein bekannter Kaufmann gewesen war. Er besaß zur Zeit des 1. Weltkriegs eine Weberei, und als viele der Männer in den Wehrdienst einberufen wurden, blieben die Frauen und Kinder im Dorf zurück. Viele Frauen aus den umliegenden Dörfern fingen an, bei ihm in der Weberei zu arbeiten, und er konnte sich durch den Verkauf von Textilien ein erfolgreiches Geschäft aufbauen.
Das
Traurige ist, dass - obwohl von meinem Opa eigentlich viele Grundstücke und Felder vererbt worden waren - diese sie mit der Zeit verloren gingen. Die zehn Kinder, auf die alles aufgeteilt wurde, kümmerten sich nur mangelhaft um die Grundstücke und führten Dokumentationen nicht fort; viele Flächen wurden letztendlich verstaatlicht oder gingen anderweitig verloren.

Meine erste Vorstellung vom Ausland bekam ich, als ich ungefähr zwölf Jahre alt war und wir von einer Familie hörten, die in Deutschland lebte. Sie kamen ursprünglich aus dem nächstgelegenen Dorf und kamen jedes Jahr mit dem Auto, für den Urlaub, in die Türkei. Als sie hier waren, trugen die Mädchen immer schöne Kleider, und meine Schwester und ich malten uns aus, wie es wohl wäre, auch dort zu leben. Denn unser Leben war im Vergleich dazu sehr schwierig, wir mussten in unseren jungen Jahren knapp zwölf Stunden am Tag arbeiten und halfen zusätzlich meiner Mutter im Haushalt, denn meine Oma war zu alt dafür geworden und brauchte selbst viel Hilfe.

Einige Jahre später wurde eine Familie aus dem benachbarten Dorf auf mich aufmerksam. Die Familie hatte ebenfalls bereits in Deutschland gelebt und kam zu meiner Familie, um um meine Hand anzuhalten. Meine Mutter sagte ohne viel Nachzudenken zu, da sie es ohnehin schwer hatte und sich vermutlich dachte, dass es mir damit besser gehen würde. Sie fragte mich nach meiner Meinung, aber damals war es so, dass diese sowieso nicht viel Gewicht hatte und man seiner Mutter nicht widersprechen durfte oder konnte. Was sollte ich denn außerdem schon sagen beziehungsweise hätte Gegenrede nicht viel gewirkt. Nach der Zusage verging ein knappes Jahr, und ich wurde im Alter von 16 Jahren verheiratet. Uns wurde damals immer gesagt, dass man woanders erfolgreicher sein würde; ohnehin blieben uns nicht viele Möglichkeiten, außer auf den Feldern zu arbeiten, und mit so vielen Kindern war man nur ein weiteres, dass gefüttert werden musste. Im Ausland hingegen, im Vergleich zu Zuhause, sollte es viel mehr Möglichkeiten geben als bei uns im Dorf.

Meine Schwiegereltern waren bereits in der Vergangenheit als Gastarbeiter nach Deutschland gegangen und nahmen uns bei ihrem nächsten Besuch mit, da mein Schwiegervater Arbeit für meinen Mann in Deutschland gefunden hatte. Auch hier hatten wir kein wirkliches Mitspracherecht, denn wir waren noch jung, und die Älteren wüssten ja, was das Beste für uns sei. Und so machen wir uns im Winter des Jahres 1978 auf den Weg nach Deutschland, genauer in eine Kleinstadt namens Lüdenscheid im Sauerland. Wir saßen gemeinsam mit meinen Schwiegereltern in einem Auto und fuhren knapp drei Tage lang bis in diesen kleinen Ort.
Ich erinnere mich noch daran, dass es ein sehr kalter
und trister Tag war, an dem wir ankamen. Schnell setzte die Wirklichkeit ein, die mit den Träumereien über die schönen Kleider und dem besseren Leben nur wenig zu tun hatte. Eigentlich war nichts so, wie man es sich vorgestellt hatte.

Wir waren sehr schnell auf uns allein gestellt, und ich erinnere mich nur ungern an diese Tage, da die einzigen Verwandten, die ich in Deutschland hatte, weit entfernt an einem anderen Ort in Deutschland lebten. Meine Schwiegereltern halfen uns nur wenig und ließen uns kurze Zeit später ohne Unterstützung allein und gingen alsbald in die Türkei zurück. In unserem jungen Alter wussten wir auch noch nicht, wie viele Dinge funktionierten, und damit fiel der Anfang besonders schwer. Unsere erste Wohnung befand sich in einem Haus, in dem wir zur Untermiete bei einer älteren Dame wohnten und welche aus einem einzelnen Zimmer bestand. Es war ein sehr altes Haus, es gab weder eine ordentliche Küche, noch hatten wir ein eigenes Bad. Die Toilette war im Keller, und wir lebten vier anstrengende Jahre in dieser Wohnung. Mein Mann arbeitete die meiste Zeit und ich war allein zu Hause, ohne Unterstützung oder Möglichkeiten, etwas anderes zu lernen oder Besonderes zu tun. Die Dame und ich versuchten uns zu verständigen, da außer uns keiner da war, aber das fiel wegen meiner geringen Deutschkenntnisse schwer, und so verständigte man sich die meiste Zeit mit Händen und Füßen so gut es eben ging.

Ich wurde mit meinem ersten Kind schwanger und das zweite folgte ein Jahr darauf. Ich bekam zwei Söhne, und weil das Zimmer ohnehin zu klein war, suchten wir nach einer neuen Bleibe für unsere Familie. Das Gebäude der zweiten Wohnung war ebenfalls sehr alt und bestand aus viel Holz, die Kinder wurden größer und fingen an umherzulaufen und die Nachbarn klopften aufgrund des Lärms, wie man das vielleicht heute noch in alten Filmen sieht, immer mit dem Besenstiel an die Decke. Aber egal, was wir mit den Kindern versuchten, sie hörten nicht, denn so sind Kinder meist nun mal und letztendlich mussten wir uns damit abfinden, dass wir auch hier nicht lange bleiben könnten.

1983 fing ich an, nachdem alle Kinder groß genug für die Schule waren, in einer Firma zu arbeiten. Dort lernte ich allerlei nette und sehr unterschiedliche Menschen kennen und machte zahlreiche neue Bekanntschaften. Dadurch, dass ich nun auch arbeitete und wir ohnehin gezwungen waren umzuziehen, schauten wir uns nach etwas Neuem um. Aber es war zu dieser Zeit sehr schwierig, eine geeignete Wohnung zu finden bzw. eine zu bekommen, wenn man Ausländer war und anders hieß oder aussah, auch wenn man sich die Wohnungen leisten konnte.
Auch wenn die Gegend der neuen Wohnung keine besonders gute war, hatten wir zum ersten Mal eine mit einem eigenen Bad, einer Küche und ausreichend Platz
, und so fühlte es sich trotz der Umstände nach so vielen Jahren in widrigen Umständen zum ersten Mal so an, als hätte man endlich eine richtige Wohnung gefunden, in der man auch anständig leben konnte.

Die anderen Wohnungen in diesem Sechsparteienhaus waren bunt gemischt, mit einer italienischen Familie über uns, einer marokkanischen unter uns und türkischen und deutschen Nachbarn. Einige der ausländischen Familien kamen unter ähnlichen Umständen her, und so verstand man sich gleich auf Anhieb. 1991 bekam ich mein drittes Kind, ebenfalls einen Sohn, und es schien sich vieles zum Besseren zu wandeln. Wir hatten Arbeit, eine schöne Wohnung und konnten auch etwas Geld ansparen, womit alles ein wenig einfacher wurde. Trotzdem gab es oft Probleme, und es kam immer wieder zu Anfeindungen durch deutsche Anwohner auf der gegenüberliegenden Seite in einem Sozialbau, die betrunken Leute anpöbelten, und oftmals kam die Polizei, um Beschwerden nachzugehen.

Leider gab es in meinem Leben, wie bei jedem, der eingewandert ist, anders aussieht oder einen ausländischen Namen trägt, immer wieder solche Anfeindungen oder Situationen, in denen man nicht akzeptiert wurde. Von allzu schlimmem bin ich aber zum Glück verschont geblieben, trotzdem ist es etwas, das mich über die vielen Jahre hier immer wieder begleitet hat. Die erschütterndste Form des Rassismus haben wir 1993 kennengelernt, als in Solingen Mitglieder der Familien Genc und Ince bei einem rechtsextremen Brandanschlag ermordet wurden. Wir fuhren hin, um unsere Anteilnahme zu zeigen, und viele Menschen aus der Umgebung taten dasselbe. Doch es wurde wieder deutlich, dass immer noch Menschen unter uns lebten, die von Hass geleitet waren und zu solchen Taten fähig waren. Ein großer Teil der Bevölkerung zeigte sich und stellte sich dem Rassismus daraufhin entgegen. An solche Dinge wird man immer wieder erinnert, wenn es um Flüchtlingsdebatten oder Ähnliches geht und man das Gefühl bekommt, dass sich einige Dinge doch nie geändert haben und man nie wirklich willkommen ist. Selbst dann nicht, wenn man, wie alle anderen, den Großteil des Lebens hier verbracht hat.

Trotz all der Schwierigkeiten besserte sich unser Leben aber mit der Zeit, und auch wenn es dort nicht die schönste Gegend war, waren wir zufrieden. Wir hatten eine gute Arbeit, und unsere Kinder konnten, im Vergleich zu uns, die Schule besuchen, eine bessere Bildung genießen, und wir schlossen dort Freundschaften, die bis heute anhalten.

Wir wohnten bis zur Jahrtausendwende dort und hatten mit der Zeit genug angespart, um uns den Traum von einem eigenen Haus zu ermöglichen. Ich bin oftmals zuvor in einem benachbarten Ort spazieren gegangen und habe währenddessen davon geträumt, wie schön es wäre, hier zu wohnen. Es war eine ruhige Gegend, etwas abseits der Stadt, und man hatte viel Natur um sich herum: Dies hatte ich mir immer als eine ideale Stelle für ein eigenes Heim vorgestellt. Ich hätte niemals gedacht, dass es einige Jahre später wirklich einmal möglich sein würde, dorthin ziehen zu können. Denn als es darum ging, nach einem passenden Baugelände zu suchen, versuchten wir unser Glück dort und bekamen den Zuschlag. Wir konnten uns ein Grundstück in der Gegend kaufen, von der ich zuvor immer geträumt hatte. Der Bau kostete viel Zeit und Nerven, aber 2001 zogen wir um und leben nun seit knapp 20 Jahren hier.

Ich habe nun den Großteil meines Lebens hier verbracht. Wir haben viel Kraft und Arbeit aufgewendet, um aus den Möglichkeiten, die wir hier hatten, unseren Kindern und uns ein besseres Leben zu aufzubauen und bin trotz aller anfänglichen Probleme und Ungewissheiten froh, dass es so gekommen ist.

(2021)