In Anlehnung an das Gedicht Die schlesischen Weber (1844) von Heinrich Heine. - Siegen, 1776
von Johanna von Stuckrad
Die hastigen Schritte knirschten im Schnee, als Henriette ihre Schwester aus dem kleinen Heuerhaus zerrte, die Hand auf ihren Mund gepresst, bevor Phine verstand, was sich dort drinnen gerade ereignet hatte. Fort von dem abschätzenden Blick der Hebamme, die erst vor wenigen Minuten Anton, den Knecht, losgeschickt hatte, um den Pfarrer zu holen.
Phine wehrte sich und trat nach ihr, doch Henriette hielt sie fest gepackt. Hinter dem Backhaus ließ sie sie schließlich los, um sich nach Luft schnappend an der verputzten Wand abzustützen. Die Kälte kroch Henriette unter ihr dünnes Kleid, doch es kümmerte sie nicht. Phine beobachtete sie nur aus ihren kinderrunden Augen und rückte nah an sie heran. Vielleicht, weil doch ein Teil von ihr verstand, dass etwas außerhalb des scheinbar Möglichen vorgefallen war.
Henriette band Phine den grauen Mantel fester unter dem Kinn zusammen damit er nicht mehr verrutschte und nahm sie bei der Hand. Schweigend folgten sie der kleinen Prozession auf den Friedhof bis zu einem frisch ausgehobenen Grab, in das nun der einfache Holzsarg hinuntergelassen wurde. Der Dorfpfarrer hielt eine kurze Ansprache und Henriette klammerte sich mit aller Kraft an jedes Wort der Predigt, auf der Suche nach etwas Tröstlichem.
Dort unten in dem Erdloch, das wegen des gefrorenen Bodens nur mit einer Spitzhacke hatte gegraben werden können, lag ihre Mutter. Man hatte sie gewaschen, damit das Blut nicht mehr an ihr klebte und dann hatte Marianne, eine Freundin, ihr das schwarze Sonntagskleid angezogen.
Der monotone Singsang des Pfarreres endete und die Leichenträger fingen an, die harte Erde zurück in das Loch zu schaufeln. Mit einem hohlen Klatschen landete die Erde auf dem Sargdeckel. Nach und nach verabschiedeten sich die wenigen Mitglieder der Dorfgemeinde, bis nur noch Marianne bei ihnen blieb, um jede von ihnen einen Arm gelegt.
„Es tut mir so Leid, meine armen Mädche“, sagte sie mit ihrer rauen Stimme und zog sie fest an sich. „Es tut mir so Leid, dass ihr nicht weiter bei uns bleiben könnt. Aber, ihr wisst ja. Georg … ach, er hat ja recht.“ Sie sprach nun mehr zu sich selbst. „Auch so werden uns die Kinder nicht satt. Aber die gute Johanne, möge sie in Frieden ruhen, sie hätte sicher gewollt, dass ich ihre Mädche nehme.“ Dann wieder an sie gewand, sagte sie: „Es tut mir so Leid, ihr zwei. Doch ihr werdet es schon gut haben.“ Mit einem Seufzen löste sie sich von ihnen. „Gott schütz‘ euch.“
Damit ging auch sie und ließ sie beide mit dem Pfarrer allein auf dem grauen Friedhof zurück. Der Mann winkte und gebot ihnen, ihm zu folgen.
„Da euch ja niemand im Dorf aufnehmen konnte, bring ich euch nach Siegen, wie besprochen. Ich habe bereits alles in die Wege geleitet“, sagte er und stapfte zugleich voraus durch den Schnee.
„Was, jetzt sofort?“, fragte Henriette irritiert und versuchte mit seinen großen Schritten mitzuhalten. Der Schnee reichte ihr bis zu den Knien „Wohin gehen wir denn und was ist mit unseren Sachen?“
„Man erwartet euch noch heute. Seid froh, dass ich euch überhaupt begleite“, gab der Pfarrer mürrisch zurück.
„Wir können auch morgen alleine nach Seje gehen. Wir kennen den Weg und so können wir noch - “
„Still!“, unterbrach er sie schneidend und Hannah zuckte zurück. „Ich lasse mir nicht von einem kleinen Mädchen sagen, was zu tun ist. Ihr könnt dankbar sein, dass ihr nicht um euer täglich Brot werdet betteln müssen. Gott erweist euch große Güte. Und nun betet zum Herrn in der Stille und kommt mit.“
Phine schloss wackelig zu Henriette auf, ergriff ihre Hand und sie folgten gemeinsam der gehässigen schwarzen Krähe, wie Henriette den Pfarrer insgeheim getauft hatte. Bis zu diesem Tag war ihr die Ähnlichkeit zwischen ihm und diesem scheußlichen Vogel nie aufgefallen.
Siegen war keine große Stadt, das wusste Henriette heute, damals war sie ihr jedoch mit ihren 4000 Einwohnern wie ein riesiger Ameisenhaufen vorgekommen. Sie war zwar schon häufig mit ihrer Mutter in der Stadt gewesen, jedoch hatte sie sich damals an ihrem Rock festhalten können und musste nicht die ganze Zeit über Phine fest an der Hand halten. Während sie durch das Marburger Tor traten, wurde ihr klar, dass heute Markttag war, denn die Straßen waren voller als sonst und alles strebte Richtung Nikolaikirche. Im Winter roch es immer nach dem heißen Wein, der auf dem Platz ausgeschenkt wurde, auch hier noch, abseits von den Ständen. Sie musste aufpassen, um in der Menge den wippenden schwarzen Hut der Krähe nicht aus den Augen zu verlieren. Als sie die Löhrstraße erreichten, lichtete sich die Treiben und in der angrenzenden Pfuhlgasse wurde der Lärm erträglich. An der Ecke vor dem Amtshaus stehend, sah sie die getünchten Wände des Hospitals. Langsam ahnte sie, wohin der Pfarrer sie brachte. Als sie ihm durch den Torbogen folgten, der auf den gepflasteren Innenhof des Hospitals führte, wusste sie es mit Klarheit. Der Pfarrer hieß sie warten und klopfte an eine schwere Holztür. Es dauerte einige Zeit, dann schob sich eine große Gestalt in den Türrahmen. Die beiden Männer wechselten einige Worte. Schließlich nickte der Pfarrer und der große Mann warf Phine und ihr einen abschätzenden Blick zu. Schließlich zog die Krähe ihren Hut und verschwand durch den Torbogen, ohne auch nur ein weiteres Wort an sie beide zu richten.
Der Mann trat auf sie zu und Phines Hand klammerte sich noch umso fester an die ihre.
„Ihr seid also die beiden Kinder deren Mutter gestorben ist, woll?“, fragte er.
Henriette war sich nicht sicher, ob er darauf wirklich eine Antwort erwartete. Also nickte sie bloß stumm.
„Und euer Vater, was ist mit dem?“, fragte der Mann fast schon drohend weiter.
Hatte ihm der Pfarrer das denn nicht erzählt?
„Er ist ebenfalls tot“, antwortete Hannah und betrachtete dabei angestrengt seinen verstaubten Mantelsaum vor ihren Füßen.
Der Mann nickte, als hätte sie seine Frage richtig beantwortet. „Kommt rein“, sagte er knapp.
Er ging voraus und führte sie direkt in Art kleinen Saal, in dessen Mitte einige ältere Frauen und Mädchen an Spinnrädern saßen, um sie herum ein See aus weißen weichen Flocken. Von dem Raum gingen mehrere Türen ab, eine davon führte in eine Vorratskammer, in dem sich weiße Ballen aus dem gleichen weichen Material türmten.
„In meinem Hospital wird nicht nur für die Kranken gesorgt. Auche Arme und Waisen, so wie ihr, finden hier einen Platz. Dafür werdet ihr hier jeden Tag arbeiten. Zu essen bekommt ihr auch. Aber wir geben keine Almosen, damit das klar ist. Euer Bett und eurer Backend müsst ihr euch verdienen.“
Er scheuchte sie in einen anliegenden Raum mit einem großen Herdfeuer, was das Zimmer sofort gemütlicher machte. Am hinteren Ende, nah beim Feuer, saß eine faltige Frau an einem Holztisch und schälte Kartoffeln, doch der Mann schenkte ihr keinerlei Beachtung.
„Außer euch und den anderen Kindern leben hier vor allem alte Frauen, für die ohne Familie nicht gesorgt ist. Hier, in der Küche, wird für die Insassen gekocht. Mit euch sind es jetzt 52. Je nach Einteilung werdet ihr auch hier helfen müssen.“
Henriette versuchte, seinen Ausführungen zu folgen, aber es war zu viel auf einmal. Ihr war so kalt und außerdem lief ihre Nase. Sie versuchte unauffällig, sie an ihrem Ärmel abzuwischen. Phine schaute sehnsuchtsvoll auf die Kochstelle und Henriette hätte nur zu gerne selbst einen Blick in den Kessel geworfen, der darüber hing und dem ein würziger Geruh entstieg.
„Margarete!“, rief der Mann durch die Tür in den ersten Saal und ein Mädchen von vielleicht vierzehn Jahren erhob sich von einem der hinteren Spinnräder. Sie eilte herbei, das blonde Haar an der Stirn klebend und wischte sich die Hände an ihrer fleckigen Schürze ab.
„Das hier sind -“, er brach ab. „Eure Namen?“
„Josephine und Henriette Menn“, antwortete Henriette leicht verwundert.
„Gut. Margarete, Josephine und äh … die Mädchen werden bei uns bleiben. Führ sie herum und erklär ihnen alles. Ich hab keine Zeit dafür. Bring sie danach in mein Arbeitszimmer.“ Dann machte er kehrt und verschwand hinter einer der schweren Türen.
Kaum war er außer Sichtweite, legte das ältere Mädchen ihre Zurückhaltung ab und musterte Henriette und Phine aus offenen blauen Augen.
„Ihr kommt mir gerade recht. Ich könnt‘ sowieso gerade eine Pause vertragen. Hier ist es auch viel wärmer, als im Spinnzimmer. Und der Staub erst! Der sitzt einem wirklich überall. Da ist mir der Sommer lieber. Da kann man draußen auf dem Feld arbeiten. Im Winter sind wir hier praktisch eingesperrt“, plapperte sie drauf los und lotste Henriette und Phine zu dem Holztisch, an dem die ältere Frau saß.
„Jetzt setzt euch mal. Erst gibt es einen Teller Suppe vom Mittagessen, dabei kann ich ja auch alles erklären. Ihr seht aus, als könntet ihr etwas Warmes vertragen. Holst du die Schüsseln für Henriette und Josephine, Thea?“ Die alte Frau legte mit einem Seufzer das Messer ab und erhob sich unter Ächzen. Zusammen mit einem Stück Brot für jede, stellte sie zwei Schüsseln mit Kartoffelsuppe auf den Tisch und ließ sich dann zurück auf die Bank fallen. Die Suppe war nur lauwarm, doch Henriette verschlang ihre Portion hastig.
„Na, der Hunger treibt’s rein“, meinte Margarete mit einem Lächeln.
„Greta, du freches Gör“, rügte die ältere Frau sie. „Beklag dich nicht andauernd. Dich will ich kochen sehen. Alles anbrennen tut’s bei dir doch. Da fragt man sich, wer sich später mal an deinen gedeckten Tisch setzen soll? Freiwillig nur gegen Bestechung.“
„So war das doch nicht gemeint, Thea“, beschwichtigte Margarete sie.
„Ja, ja. Lass ma‘ gut sein. Seid froh, dass ich die Suppe heute gekocht habe, Kinder“, richtete Thea das Wort an sie. „Ach, schlecht werdet ihr es hier schon nicht haben.“
Henriette blickte stumm auf ihre leere Schale.
„Gegen ein ruhiges Heim und einen Schaukelstul, hätt‘ ich zwar auch nichts einzuwenden. Nu, man bekommt aber nicht immer das, was man will, woll? Wie alt seid ihr zwei?“, wechselte sie das Thema.
„Sechs und neun“, antwortete Phine.
„Na sieh ma‘ einer an.“ Thea entblößte beim Lächeln zwei leicht schiefe Vorderzähne. „So groß seid ihr schon, woll?“
Vor lauter Stolz wuchs Phine gleich um ein paar Zentimeter und nickte.
Mit einem kurzen Blick auf die leeren Teller fing Margarete an, mit dem Fingerknöchel einen schnellen Rhythmus auf das Holz zu klopfen.
„Dann lass ich ma‘ unsere Greta weiter machen“, sagte Thea mit einem Seitenblick auf das junge Mädchen. „Unsere olle Klatschbase kann schon gar nicht mehr ruhig sitzen, wenn sie euch nicht bald alles über‘s Hospital erzählen darf.“
Es war, als sprudele es nur so aus Margarete heraus. „Dann werdet ihr hier auch zur Schule gehen, die haben wir hier nämlich auch. Ich meine, wegen eurem Alter. Naja, es ist keine richtige Schule, aber es kommt ein Lehrer oder Herr Kleist. Auf jeden Fall gibt er uns manchmal auch ein paar Stunden. Und weil die Arbeit ja gleich hier ist und sie auch nicht so schwer ist, bleibt immer genug Zeit, um etwas zu lernen. Das ist viel besser so, stellt euch vor wir müssten im Stollen arbeiten! Naja, im Stollen wohl nicht, das ist ja nur was für die Jungens, aber die Steine schleppen und sortieren – das stell ich mir schwer vor. Und da gäb’s dann nichts mit Schule, da nicht.“
Sie würden zur Schule gehen? Henriette war noch nie wirklich in einer Schule gewesen. Natürlich hatte es bei ihnen im Dorf eine gegeben, aber die Arbeit wartete nicht und ihre Mutter brauchte die Hilfe mit den Tieren und im Garten umso dringender, seitdem ihr Vater nicht mehr da war.
„Wirklich, eine Schule? Und was ist das für eine Arbeit, die ihr macht?“, fragte Henriette.
„Na, spinnen natürlich, hast du die Spinnräder vorhin nicht gesehen?“
Doch, natürlich hatte sie die gesehen, aber zu Hause sponnen sie immer nur Flachs und nicht diese seltsamen weißen Flocken.
„Spinnen? Was denn?“, fragte auch Phine mit ihrer hohen Kinderstimme.
„Na, Baumwolle!“
„Baumwolle? Ist das dieses weiße Zeug, das überall herumliegt?“, wollte Henriette wissen.
„Ja, genau.“
„Und daraus bekommt man auch Garn, genauso wie aus Flachs?“
„Ja, aber es ist robuster.“
„Was meinst du?“
„Man kann es heißer waschen, der Stoff geht nicht so schnell kaputt und Baumwolle lässt sich auch einfacher spinnen als Flachs oder Wolle“, zählte Margarete auf.
„Wirklich? Und weshalbt ist es so furchtbar staubig?“
„Ja, nu‘, das ist der Nachteil. Die Fasern müssen gelockert werden. An Schlagtischen“, erklärte Thea. „Die stehen zwar nicht im Spinnsaal, sondern im Lagerraum dahinter, aber die Flusen landen wirklich überall. Und es dauert lange, die Baumwolle zu schlagen und ist dazu noch echte Knochenarbeit. Das müsst ihr aber noch nicht machen, ihr mit euren Vogelärmchen. Dazu braucht ihr mehr Kraft.“
„Seid froh, man atmet die ganze Zeit über den Staub ein, der aus der Wolle kommt. Danach juckt einem alles, in jeder Ritze“, bemerkte Greta.
Phine kletterte auf Henriettes Schoß. „Jette, ich will das nicht tun. Können wir nicht nach Hause? Ich bin so müde.“
Hilfe suchend sah Henriette zu Thea, die mühevoll aufstand, um Phine über den Kopf zu streicheln.
„Du musst ja auch nicht an den Schlagtischen arbeiten, woll? So, nu‘ glaube ich, dass ich irgendwo noch einen Topf mit Pflaumenmus stehen habe. Wäre das nich was für dich?“, fragte sie und zog spielerisch an einem von Phines Zöpfen. Als Phine vorsichtig nickte, ging Thea schwerfällig zu einem Vorratsschrank, um ein kleines Glas ans Licht zu befördern. „Na bitte. Hier haben wir es ja.“ Zusammen mit einem Löffel stellte sie das geöffnete Glas vor Phine ab und strich ihr noch einmal über das Haar. „Wohl bekommt’s.“
Dann wandte sie sich an Henriette. „Sollen wir uns kurz auf dem Gang unterhalten? Vielleicht macht es das einfacher“, schlug sie mit einem Blick auf ihre kleine Schwester vor, die bereits die erste Fuhre Mus zum Mund beförderte. Henriette nickte. Phine schien noch nicht begriffen zu haben, dass sie hierbleiben mussten, in diesem fremdartigen Haus.
„Greta leistet dir Gesellschaft, Schätzchen. Nicht wahr, Greta?“, bestimmte Thea.
Henriette vermutete, dass Greta zwar lieber mit ihnen gekommen wäre, sie lächelte Phine aber herzlich an. „Natürlich bleibe ich bei ihr.“
„Ist das in Ordnung, Phinchen?“, fragte Henriette. „Du isst hier mit Greta dein Mus, und ich komm gleich wieder?“
„Gut“, stimmte Phine zu, „aber nicht zu lange, ja?“
„Natürlich nicht“, sagte Henriette, hob sie von ihrem Schoß und setzte sie auf die Bank. „Ich bin gleich wieder zurück.“
Auf dem Gang schloss Thea die Tür hinter ihnen.
„Ihr seid die beiden Mädchen aus Kaan, woll?“, fragte sie.
„Woher weißt du, dass wir aus Kaan sind?“
„Letzte Woche war ein Pfaffe von dort da, um mit Herrn Kleist zu sprechen. Da habe ich eins und eins zusammengezählt.“
Henriette fragte sich, ob dieser Herr Kleist der strenge Mann mit dem Mantel war.
„Letzte Woche schon?“, wunderte sie sich. „Ja, unser Pastor hat uns vorhin hergebracht.
„Und ihr zwei seid nu‘ hier bei uns, weil eure Mamme verstorben ist, woll?“, fragte Thea sanft.
Henriette nickte und sah wieder zu Boden. Ihre Tränen konnte sie jetzt nicht mehr zurückhalten. Vor Phine wollte sie stark sein, aber jetzt wo Phine sie nicht sah … Großmütterlich zog Thea sie einfach an ihre ausladende Brust und tätschelte ihr den Rücken.
„Ich weiß, Schätzchen, das ist schwer. Wein nicht, es wird schon wieder werden. Jetzt seid ihr hier, hier ist es nur halb so schlimm, wie du vielleicht glauben tust“, beruhigte Thea sie und strich ihr über den Kopf. „Sagst du mir, was mit deinem Vater is‘? Warum seid ihr nicht bei ihm?“
Henriette trocknete sich die Wangen mit ihrem Ärmel.
„Letztes Jahr im Sommer ist er auf einmal sehr krank geworden. Er konnte nicht mehr richtig sehen und war ganz schwach und wollte nicht mehr essen. Bauer Kessel hat sogar nach dem Arzt geschickt, aber der konnte auch nicht helfen. Kurz nach der Ernte ist er dann gestorben“, erzählte sie leise in ihren Ärmel.
„Oh, ihr zwei armen Wichter. Wart ihr dann mit eurer Mamme allein?“
Henriette nickte. „Ja, naja, nicht ganz allein. Wir konnten auf dem Hof in unserem Heuerhaus bleiben. Bauer Kessel konnte uns nicht wegschicken, Mamme war doch schwanger. Aber wir haben hart gearbeitet, ich und Phinchen auch. Damit wir bleiben konnten.“
„Schwanger? Ein drittes Kind?“, hakte Thea nach.
„Die Ammfrau hat es mitgenommen. Es war schon tot, noch vor der Geburt. Ich glaube, deswegen ist Mamme auch gestorben.“
„Beim gnädigen Gott, und auf dem Hof konntet ihr nicht bleiben?“
Sie schüttelte kraftlos den Kopf. „Nein, die Ernte war doch so schlecht und die Kessels sind schon zu acht. Niemand im Dorf hat genug, es hätte nicht auch noch für uns zwei gereicht.“
Hinter ihnen ging die Tür zur Küche auf und Greta schob sich hindurch.
„Jospehine ist auf der Bank vor dem Feuer eingeschlafen“, flüsterte sie und schloss leise die Tür hinter sich. „Zusammengerollt wie ein Kätzchen. Wir können sie ruhig ein paar Minuten alleine lassen.“
„Dann zeig du unserem neuen Gast doch mal das Haus, ich setze mich mal wieder an die Duffeln und bleibe bei der Kleinen.“
Margarete schleppte sie von einem Zimmer ins nächste, sie ließ sie einen kurzen Blick auf den Flügel mit den Kranken werfen, zeigte ihr die Schlafkammern für die Mädchen, den Vorratsraum neben der Küche, den Schulraum, erklärte ihr, wie die Spinnräder funktionierten und stellte sie den anderen Frauen und Kindern vor, die im Spinnsaal arbeiteten. Dabei erzählte sie ununterbrochen von den anderen Bewohnern des Hospitals, von ihrer Arbeit im Sommer und im Winter und von Herrn Kleist, der das Hospital leitete.
„Das Garn, das wir hier herstellen ist für die Fabrik vom Herrn Dresler. Der Name sagt dir was, oder? Eigentlich arbeiten fast alle für ihn, hier in Siegen. Siehst du irgendwo einen Webstuhl – Stoff für Herrn Dresler. Und sein Schwiegersohn hat hier die Siamoskappenmacherei.“
Henriette fing eine Baumwollflocke aus der Luft und betastete sie zwischen ihren Fingern. Sie war genauso weich, wie sie aussah. Noch nie hatte sie Felder mit dieser Pflanze gesehen.
„Da werden dann die Stoffe weiter verarbeitet und alles in Frankfurt auf der Messe verkauft“, erzählte Margarete weiter.
Wo kamen diese Flocken nur her? Von weit weg? Vielleicht aus einem anderen Land, überlegte Henriette.
Schließlich zog Margarete sie in den Raum, in dem die Baumwollballen gelagert wurden. Ungefähr zehn Frauen standen um einen großen Tisch in der Raummitte und lockerten die Fasern. Dabei hinterließen sie eine Schicht aus Flusen und tanzendem Staub in der Luft und auf dem Boden. Henriette hielt sich den Arm vor Mund und Nase. „Das Ballenbrechen ist echt langwierig“, rief Margarete über den Lärm der Schlagstöcker hinweg. „Am Tag schafft man nicht mehr als einen kleinen Haufen Baumwolle.“ Schnell schob sie Henriette wieder aus dem Raum und sprach mit normaler Stimme weiter. „Aber mit dem Spinnen kommen wir trotzdem kaum hinterher. So viel Garn brauchen sie für die Weberei. Zum Glück geht es jetzt im Winter schneller, da wir ja nicht auf die Felder müssen. Wenn erst einmal alle Baumwolle bearbeitet ist, brauchen wir nur ungefähr einen Monat, um die Ballen zu verspinnen.“ Ein wenig Stolz schwang in ihrer Stimme mit.
Einen Monat. Ein Monat kam Henriette ewig vor. Ja, in einem Monat würden sie und Phine noch immer hier sein. Und im Monat danach. Und danach. Ihr fiel ein, dass sie vorhin vergessen hatte, Thea zu fragen, wie sie Phine die ganze Situation am Besten erklären konnte.
„Ich glaube, ich bringe dich jetzt lieber mal zu Herrn Kleist in die Schreibstube“, überlegte Margarete laut und Henriette nickte zustimmend, dankbar, dass sie dem Krach und dem Dreck entgehen konnte.
Margarete klopfte an eine Tür und nach einem weit entfernten „Herein“ betraten sie das Zimmer.
Herr Kleist saß am hinteren Ende an einem Fenster über seinen Schreibtisch gebeugt; neben ihm prasselte ein kleines Feuer in einem Kamin.
„Wo ist deine Schwester?“, fragte er ohne Begrüßung, nachdem er nur einem kurzen Blick auf die beiden Mädchen geworfen hatte. Dann kramte er eine kleine Lesebrille unter einem Stapel Papier hervor.
„Sie ist eingeschlafen und noch in der Küche bei Dorothea“, antwortete Margarete an Henriettes Stelle.
„Hatte ich nicht gesagt, dass du beide Kinder zu mir bringen sollst?“, herrschte er sie an. Dann sagte er etwas gemäßigter: „Naja, schon gut. Es soll mir gleich sein. Du wirst mir meine Fragen halt allein beantworten müssen“, sagte er zu Henriette. „Margarete, du kannst gehen.“
Margarete nickte und verließ mit einem aufmunternden Lächeln an Henriette die Schreibstube.
„Die Armen-Commission muss über alles, was hier geschieht, im Bilde sein.“ Herr Kleist schob sich die Brille auf die Nase und fing an, Henriette nach den Namen ihrer Eltern, ihrem Geburtsort, der Bauersfamilie und den Todesdaten ihrer Eltern zu fragen und trug ihre Antworten geflissentlich in ein dickes Buch ein. Dabei fragte sie sich abermals, warum der Pastor ihm nicht bereits alles, was er wissen wollte, erzählt hatte, wenn er letzte Woche schon hier gewesen war. Er kannte sie von klein auf. Sicher hätte er alles beantworten können. Herr Kleist machte ihr Angst und sie fürchtete, in ihrer Aufregung die Daten und Namen zu vertauschen. Schließlich klappte er das Buch zu und legte seine Brille auf dem Deckel ab.
„So, das hätten wir“, schloss er. „Die Angaben sind überaus wichtig. Herr Dresler ist in der Armen-Commission und muss wissen, wer für ihn arbeitet.“ Dann winkte er unverbindlich mit einem Arm in Richtung Tür. „Du kannst jetzt gehen.“
Doch Henriette blieb. Eine Frage brannte ihr auf der Seele. Sie musste versuchen eine Antwort zu erhalten.
Herr Kleist blickte irritiert auf. „Was ist denn noch?“
Henriette kratzte ihren ganzen Mut zusammen, den sie noch irgendwo in sich finden konnte und stellte ihre Frage.
Herr Kleist reagierte ungeduldig. „Euer Bestitz? Der Herr Pastor hat sich darum gekümmert. Der Bauer, wie heißt er noch gleich … wie war noch sein Name …“
„Kessel.“
„Ja, Herr Kessel hat alles abgekauft. Soviel war es ja nicht, eine eher geringe Summe. Das Geld geht an die Armen-Commission. Eine kleine Gegenleistung für die Unkosten, die ihr uns hier im Hospital bereitet.“
Mit einem Mal fror sie, obwohl sie dicht vor dem Kaminfeuer stand. All ihr Hab und Gut war verkauft worden? Es stimmte, viel besaßen sie nicht, das Heuerhaus und die Geräte hatten Bauer Kessel gehört. Aber da war immerhin das kleine Taufkleidchen für das neue Kind, dass sie erst letzte Woche mit Hilfe ihrer Mutter aus dem alten Taufgewand von Phine zu Ende genäht hatte, die Familienbibel ihres Großvaters und Vaters hölzerne Pfeife, mit der er Abends im Mundwinkel auf der Bank vor der Tür gesessen hatte.
Sie verstand, dass diese Dinge nur wenig Geld einbrachten, aber für sie waren diese Gegenstände von unschätzbarem Wert.
„Sie hätten uns fragen sollen“, flüsterte Henriette beinahe lautlos.
„Wie bitte?“
„Sie hätten uns vorher fragen sollen“, sagte Henriette nun etwas bestimmter.
„Ich – was? Hör mir mal gut zu, du kleines Gör. Deine Mutter war Heuersfrau und dazu Witwe, euer Gut gehörte schon längst diesem Bauern … “, er schien nach dem Namen zu suchen, „ … diesem, diesem Kettler. Großzügigst hat er euch bei sich wohnen lassen, das ist nicht selbstverständlich. Und du wagst es, mir zu sagen, was ich tun und lassen soll? Ich habe nichts mit dem Verkauf am Hut. Stattdessen nehme ich dich und deine Schwester im Hospital auf. Zeig etwas Dankbarkeit für die Barmherzigkeit, die dir wiederfahren ist.“
Er erhob sich und Henriette war klar, dass sie nun besser gehen sollte. Sie hätte schweigen sollen. Schnell verschwand sie durch die Tür, bevor Herr Kleist sie rauswerfen konnte.
Langsam ging sie zurück zur Küche. Der Pfarrer hatte in der Früh bereits ganz ähnliche Worte an sie gerichtet. Dankbarkeit. Aber wofür? Ihr war alles genommen worden und nun sollte sie auch noch dafür dankbar sein? Sie war so machtlos und – ja, sie war auch unendlich wütend.
Als Henriette in die Küche trat, saß Phine wieder am Tisch, ihr Haar noch ganz unordentlich von dem kleinen Nickerchen. Nur Thea saß bei ihr.
„Jette, wusstest du, dass man in einer Schule auch Lieder singt und lesen lernt? Das hat Thea mir gearde erzählt. Toll, nicht?“, erzählte Phine ganz aufgeregt.
„Ja, ganz toll“, murmelte Henriette und ließ sich erschöpft neben sie auf die Bank fallen. Thea warf ihr einen nachdenklichen Blick über die Kartoffeln hinweg zu.
„Gehen wir jetzt nach Hause, Jette?“, fragte Phine und kletterte wieder auf ihren Schoß.
Sie konnte ihr nicht in die Augen schauen, als sie sagte: „Nein, wir bleiben erstmal hier.“
„Ich will aber nach Hause!“, beharrte Phine.
„Schau, dann kannst du aber nicht in die Schule gehen und lesen lernen.“
„Mir egal, ich will trotzdem nach Hause.“
„Das wolltest du doch aber gerade noch. Singen und Lesen. “
„Nein, ich will nach Hause zu Mama!“ Nun wurde Henriette energischer. „Willst du etwa nicht nach Hause?“
Oh doch, Henriette wollte nichts sehnlicher auf dieser Welt.
„Phinchen, das geht nicht“, versuchte sie ruhig zu bleiben.
„Doch!“
„Nein, es geht nicht. Schau - “
„Doch!“
„Nein, Phinchen.“
„Du willst nur nicht! Du bist Schuld, Jette! Ich will jetzt zu Mama!“
„Da ist kein Zuhause mehr! Mama ist tot!“, brach es aus ihr hervor. Sie war so müde. Und jetzt gab Phine auch noch ihr die Schuld! „Wenn jemand Schuld ist, dann Mama oder das Kind, nicht ich!“ Phine schaute sie erschrocken an.
„So, das ist genug“, mischte sich Thea ein und nahm Phine umständlich von Henriettes Schoß und auf ihre Arme. „Niemand hat hier die Schuld an irgendwas, hört ihr? Jetzt beruhigt euch mal.“
Sie wollte nicht, dass Phine ihre Tränen sah, doch der Schutzwall, den sie errichtet hatte, um für ihre Schwester stark zu sein, hatte bedenkliche Risse bekommen. Die Trauer, die Müdigkeit, alles übermannte sie und sie verbarg schnell das Gesicht in ihren Armen.
„Phine, … Mama ist … tot. Wir … wir könnnen nicht zurück“, schluchzte sie erstickt.
Phine strampelte so heftig mit den Beinen, dass Thea sie nicht länger auf ihrem Arm halten konnte und wieder auf dem Boden absetzte. Kaum berührten die Füße die Steinfliesen, flitzte sie los und schlang von hinten die Arme fest um Henriettes Mitte. Nun weinte auch sie, das nasse Gesicht an Henriettes Rücken gepresst.
Etwas unschlüssig stand Thea im Raum. „Tränen waschen rein“, murmelte sie dann wie zu sich selbst, setzte sich den Kindern wieder gegenüber und schälte stoisch weiter die Kartoffeln fürs Abendessen.
Der Mond schien auf die raue Bettdecke. Phines Körper kuschelte sich an ihren und wiegte sich in einem gleichmäßigen Rhythmus. Henriette jedoch war wach und konnte nicht einschlafen, die tiefe Erschöpfung ließ sie nicht zur Ruhe kommen. Das Bett teilten sie sich noch mit zwei anderen Mädchen. Sie lagen dicht zusammen und ihr gefiel die Enge nicht. Vielleicht mochte sie an anderen Tagen tröstlich sein, heute jedoch fühlte sie sich dadurch noch einsamer.
Hier wird es nur halb so schlimm sein, wie ich es jetzt vielleicht annehme, wiederholte sie in Gedanken Theas Worte. Immerhin sind Phine und ich beisammen.
Außerdem war die Arbeit am Spinnrad nicht sonderlich schwer, vorhin hatte sie es bereits ausprobiert. Gut, an den Staub musste sie sich gewöhnen. Sogar die anderen Mädchen waren nett zu ihr und Phine gewesen. Carla, die jetzt links von ihr im Bett lag, hatte erzählt, dass sie, wenn sie älter war, vielleicht eine bessere Arbeit finden würde. Wenn sie alt genug sei, könne sie sogar wieder nach Kaan zurückgehen, wenn sie denn wolle, und heiraten. Herr Kleist würde sie nicht aufhalten können.
Sie betrachtete den Schatten, den ihre Hand warf, wenn sie sie gegen das Mondlicht hielt. Erst eine Faust, dann ein Hase. Ein Hund. Eine Faust.
Dann schob sie ihre eiskalte Hand zwischen sich und Phine unter die Bettdecke und schloss die Augen.
Anmerkungen
Auch wenn diese Geschichte völlig frei erfunden ist, so basieren einige Gegebenheiten dennoch auf historischen Fakten. In Siegen hat es zu dieser Zeit tatsächlich ein Hospital gegeben, in dem von den Waisen und anderen Bewohnern Garn für die Firma von A.A. Dresler produziert wurde. Das alte Hospital stand in der Pfulgasse, in der Nähe des Unteren Schlosses und beherbergte in heutiger Zeit noch bis vor ein paar Jahrzehnten ein Krankenhaus. Zur Zeit befinden sich auf seinem Gelände u.a. Gebäude der Uni und Wohnungen für Studierende. Die Zusammenhänge zwischen Hospital, Spinnerei und Herrn A.A. Dresler, die im Text beschrieben werden, sind in Thomas Bartoloschs Buch Das Siegerländer Textilgewerbe (1992) nachzulesen. Herrn Bartolosch möchte ich besonders danken, da er sich viel Zeit genommen hat, meine Fragen zu dem Thema zu beantworten.
Die Familie Dresler stellte eine wichtige Größe für die Stadt Siegen dar, und ihr Stammbaum sowie einige Texte zu ihnen, sind im Stadtarchiv Siegen zu finden.
Auch wenn ich viel über die historische Produktion und Entwicklung der Garnherstellung und das Weben nachgelesen habe, konnte ich die Abläufe im Siegener Hospital nicht genau rekonstruieren, sondern nur vom Allgemeinen auf das Besondere schließen. Diese Geschichte kann also nur als ein kleiner Versuch angesehen werde, historische Daten und Quellen durch Figuren zum Leben zu erwecken. Zahlen und Wegbeschreibungen habe ich soweit es möglich war geprüft und dann genau so in die Erzählung übernommen.
Außerdem möchte ich dem Siegener Arthur Kalb danken, denn er hat mir erlaubt, in seinem privaten Archiv zu stöbern und mir viele alte Fotos von Siegen gezeigt. Diese Bilder haben mir sehr dabei geholfen, einen Eindruck von Siegen vor den Weltkriegen zu bekommen, selbst wenn natürlich das Siegen in der Geschichte noch einmal um rund zwei Jahrhunderte jünger ist.
Falls Interesse besteht, mehr über das Spinnen und Weben von Baumwolle und die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten nachzulesen, kann ich folgende Webseite empfehlen:
Auch die beschriebenen Abläufe in der Geschichte orientieren sich an den Inhalten dieser Webseite. Empfehlenswert ist ebenfalls ein Besuch des LVR-Industriemuseums Textilfabrik Cromford in Ratingen. Dort können die originalen Maschinen zur Baumwollspinnerei besichtigt werden und es ist sogar möglich, selbst einmal die Arbeit am Spinnrad auszuprobieren.