von Elisabeth Knappstein
Inhaltsverzeichnis
2 Unser Haus - eine Begriffsbestimmung
3 Entwicklung der Stadt Schmallenberg
3.1 Gründung und Entwicklung bis 1822
3.2 Wiederaufbau und Stadtentwicklung nach dem Stadtbrand von 1822
3.3 Das Gartengrundstück ‚Küttelbicke‘
3.4 Jüdisches Leben in Schmallenberg
4 Geschichte der Familie Frankenthal
4.1 Geschichten: Mit dem neuen Wissen lernt man sein eigenes Haus neu kennen
4.2 Das Leben Schmallenberger Juden im Nationalsozialismus
4.4 Stolpersteine und ihre Geschichte
5 Aus ‚unserem‘ Haus wird ‚sein‘ Haus
5.2 Rückerstattung und Wohnrecht
6 Geschichte der Familie Knappstein
6.1 Ladengeschäft im Hochparterre
6.2 Die Wirtschaftswunderjahre
7 Die Auseinandersetzung mit der Historie des Hauses
7.1 Ein Haus lebt und atmet mit den Menschen, die darin wohnen
7.2 Geschichten: Hinter der Fassade, zwischen den Wänden
1 Einleitung
Seit 1991 wohnen wir, meine Familie und ich, in dem Haus Oberer Hagen 8 in Schmallenberg. Bei jedem Umbau und jeder Renovierung sind wir auf Spuren der Vergangenheit gestoßen. Das war insofern spannend, da wir uns dadurch mit der Historie des Hauses und den Menschen, die hier wohnten, auseinandergesetzt haben. Tatsächlich spiegelt das Haus seit seiner Erbauung im Jahr 1891 einen Teil deutscher Geschichte in einer aufstrebenden Kleinstadt wider: Die Gründerzeit am Ende des 19. Jahrhunderts, die Zeit während und zwischen den Weltkriegen, die Verfolgung der Juden durch den Nationalsozialismus, der Aufbruch in der Wirtschaftswunderzeit, die Bonner Republik und die Gegenwart.
Wir sprechen von ‚unserem Haus‘, so wie die früheren Besitzer von ihrem Haus sprachen. Auch wenn die Menschen, die Nutzung der Räume, die Erlebnisse und Geschichten andere waren, lebt das Haus durch seine Bewohner. Das Haus steht für Neubeginn, Familie und wirtschaftlichen Aufschwung.
Abb. 1: Buchdeckel der Baupläne von 1891 (insgesamt 8 Seiten) Quelle: Privates Archiv |
Von einer jüdischen Familie erbaut, ist es bis heute ein jüdisches Haus, auch wenn die Jüdin, die hier zuletzt gewohnt hat, 1961 verstorben ist[i]. Die neun Stolpersteine auf dem Bürgersteig vor der Haustreppe bezeugen das unrühmliche Kapitel deutscher Geschichte, die sich in diesem Haus ereignet hat. Unser Haus war ihr Haus. Acht Personen wurden Opfer der Nationalsozialisten – eine Person weniger als die Zahl der Stolpersteine, die vor dem Haus verbaut wurden.
Bei Recherchen zur jüdischen Geschichte in Schmallenberg stellte sich 2015 im Nachhinein heraus[ii], dass der Künstler Gunter Demnig einen Stolperstein zu viel verlegt hatte. Die historische Auseinandersetzung zeigt tatsächliche Entwicklungen chronologisch auf. Es bleibt zu wünschen, dass die Geschichte und die Geschichten unseres Hauses mit dazu beitragen, dass statt Vergessen die wirkliche Historie aufgearbeitet wird.
Margot Frankenthals Name steht auf einem der Stolpersteine. Sie konnte frühzeitig aus Nazi-Deutschland fliehen und war später Mitglied jener Erbengemeinschaft, die dem Verkauf des Hauses 1953 an Erich Knappstein zugestimmt hat. Letzterer hat hier eine Familie gegründet und ein Möbelgeschäft eröffnet. Das Geschäftslokal war der Beginn eines aufstrebenden Unternehmens, das für das Wirtschaftswunder in Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg steht. Einen Tag nach der Währungsreform gegründet, ist die Firmenzentrale heute noch in Schmallenberg ansässig und steuert in dritter Generation weitere vier Niederlassungen im Bergischen, Sauerland und Thüringen. Für die Familie Knappstein ist dieses Haus ihr Stammhaus.
Gegenstand dieser Arbeit ist die Beziehung der Menschen, die in diesem Haus - im Kontext ihrer Zeit - gewohnt und gearbeitet haben. Es ist weniger die Historie des Hauses als vielmehr die Geschichten der Persönlichkeiten, die dieses Haus ihr Heim nannten oder heute noch nennen.
2 Unser Haus - eine Begriffsbestimmung
Am 22. September 1892 wurde der Grunderwerb des Metzgers David Frankenthal im Grundbuch von Schmallenberg, Band XIV, Blatt 606 eingetragen. Es handelte sich um das Grundstück Flur V, Parzelle 416 mit einer Größe von 3.59 qm. Später wird das Wohn- und Geschäftshaus, das David Frankenthal 1891 hier zu bauen plant, die Adresse Unterm Hagen 10 (heute Oberer Hagen 8) tragen.
Der Eintrag in das Grundbuch verbrieft formal das Eigentum an einem Haus. Die Verwendung von ‚unser Haus‘ erfolgt häufig in Bezug auf den Erwerb von Grund und Boden, der das Eigentum bestimmt. Der Wunsch nach einem eigenen Haus steht gleichermaßen für Sicherheit als auch Unabhängigkeit. Der Hausbau kann ein Lebensziel sein, so wie die Gründung einer Familie. Auf besondere Weise besiegelt der Erwerb die Zusammengehörigkeit und ist Ausdruck einer langfristigen, meist lebenslangen Entscheidung. Weitere Gründe sind die individuelle Entfaltung, die sich sowohl in der baulichen Gestaltung als auch in der persönlichen Einrichtung widerspiegeln. Die Freiheit, den eigenen Lebensraum selbst zu bestimmen, schafft eine besondere Bindung. Man identifiziert sich in dem Maße, wie man die eigenen Vorstellungen und Wünsche weitestgehend umsetzen konnte.
,Unser Haus‘ wird auch verstanden als gemeinsamer Lebensraum mehrerer Personen. Gleiches gilt für die Wohnung, die allerdings weniger Möglichkeiten zulässt. Wachsen Kinder in einem Haus auf, sehen sie das gemeinsame Elternhaus als ,ihr Haus‘ im Sinne eines Zuhauses an. Die erlebten Wohnverhältnisse definieren ihren persönlichen Standard für die Zukunft. Die eigenen vier Wände erlauben den Rückzug in das Private, schaffen Sicherheit und Behaglichkeit. All das sind Gründe, warum man von seinem oder ‚unserem Haus‘ spricht. Das Haus schafft den Bezug, auch wenn unterschiedliche Personen hier wohnen bzw. früher hier gelebt haben. Das Haus ist beständig, es sind die Menschen, die für Veränderungen stehen - und das im Kontext zu ihrer eigenen Lebensplanung sowie den wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen ihrer Zeit.
Abb. 2-4: Die älteste, vorliegende Grundbuchbenachrichtigung von 1892 Quelle: Privates Archiv |
3 Entwicklung der Stadt Schmallenberg
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Abb 5: Ansicht der Stadt Schmallenberg und des Klosters Grafschaft von Norden nach 1680 Quelle: Stoob, Heinz (1975) Westfälischer Städteatlas, Auszug aus der Charte über die Fürstenbergische und Grafschafter Samtjagd |
3.1 Gründung und Entwicklung bis 1822
Der Ort Schmallenberg wird von einer für das Sauerland typischen Mittelgebirgslandschaft umgeben. Der Ortskern liegt auf einem Bergrücken, der an drei Seiten von dem Fluss Lenne umflossen wird.
Aus einem kleinen Burgflecken Anfang des 13. Jahrhunderts entwickelte sich eine kleine Burgstadt, die 1228 durch den Zeugen Alexander de Smalenburg belegt ist.[iii] Die Burg gehörte dem Erzbischof von Köln. Das Jahr 1244 wird als Gründungsjahr der Stadt Schmallenberg angesehen. Die Stadt wurde mit einer Stadtmauer umgeben. Die Burg, die zu dieser Zeit bereits verfallen war, lag außerhalb dieser Stadtmauer.[iv] Die Stadt erhielt ein Marktrecht, eine eigene Gerichtsbarkeit und wurde zu einer kölnischen Münzstätte. Der Kölner Erzbischof Konrad von Hochstaden verlieh der Stadt in seinem Amt als Herzog von Westfalen ihre Stadtrechte.[v]
Schon früh wurde mit Eisen- und Textilwaren gehandelt. Der Fernweg Leipzig-Kassel-Köln, die sogenannte Heidenstraße, führte an der Stadt vorbei. Das begünstigte früh den Handel durch Fernkaufleute. Die sich entwickelnde Handelsstadt war im Mittelalter Mitglied der Hanse und eine Stadt der Handwerker und Kaufleute. Aber auch die Landwirtschaft prägte das Leben und das äußere Bild der Stadt über Jahrhunderte.
Im frühen 14. Jahrhundert wurde die Stadtmauer das letzte Mal erweitert. Es waren unruhige Zeiten, und die umliegenden Dörfer wurden häufig geplündert. Die Dorfbewohner suchten Schutz innerhalb der Stadtbefestigung. Das wiederum hatte zur Folge, dass etliche Siedlungen und Dörfer in dieser Zeit verlassen wurden. Die Anziehungskraft der kleinen, aber gut geschützten Stadt hatte zu dieser Zeit einen ihrer Höhepunkte.[vi] Die Einwohnerzahl stieg. Manche Bewohner naheliegender Höfe siedelten nach Schmallenberg über, bewirtschafteten aber weiterhin ihre Äcker außerhalb der Stadt.
So verhielt es sich bei der wohl vor 1350 existierenden Vorstadtsiedlung des Hagen. Vom oberen Tor der Stadt aus in weitem Bogen um den nordwestlichen und westlichen Hang herum befand sich diese Siedlung. Sie war vermutlich mit einer Wallhecke (Hagenbefestigung) umgeben. Diese Hecke bot nur ungenügenden Schutz. Bei Angriffen zogen sich die Bewohner mit Hab und Gut hinter die Stadtmauer zurück. „Der Hagen war noch 1423 bewohnt, muss aber im späteren 15. Jh. verlassen worden sein, denn seine Grundstücke wurden im 16. Jh. in Gärten umgewandelt.“[vii]
Abb. 6: Rekonstruktion der 1822 abgebrannten Stadt Schmallenberg mit der Vorstadtsiedlung[viii] und Hagenbefestigung vor 1350 (Pfeil: Grundstück Unterm Hagen 10) Quelle: Stoob, Heinz (1975) Westfälischer Städteatlas |
Allerdings erlebte die Stadt im Spätmittelalter aufgrund zahlreicher Fehden und der Pest auch schlechte Zeiten.
Obwohl die Stadt über Jahrhunderte hinweg von Kriegen verschont geblieben ist, mussten durchziehende Soldaten immer wieder untergebracht und verpflegt werden. Das stellte die Bewohner der Stadt vor große Herausforderungen. Auch mehrere Stadtbrände in den Jahren 1608, 1732 und 1746 bluteten die Stadt regelrecht aus. Der letzte und verheerendste Stadtbrand am 31. Oktober 1822 vernichtete nahezu alle Wohn- und Wirtschaftsgebäude in Schmallenberg.
3.2 Wiederaufbau und Stadtentwicklung nach dem Stadtbrand von 1822
Nach dem großen Stadtbrand von 1822, bei dem nur wenige Gebäude nicht vom Feuer betroffen waren, wurde die Stadt in den Jahren 1822 bis 1825 wieder neu aufgebaut und in Richtung Norden erweitert. Plan und Entwurf der neuen Stadt entsprechen zeitgenössischer klassizistischer Gestaltungsgrundlage. Der Wiederaufbau erfolgte im preußischen Klassizismus.[ix]
Jedes einzelne Haus wurde nach klassizistischen, achsensymmetrischen Gesichtspunkten zweigeschossig und in drei- bis fünfachsiger Bauweise errichtet: Dabei liegen Fenster, Türen und Treppenaufgänge achsensymmetrisch. Die traufenständigen Häuser weisen fast alle eine Dachneigung von 42-47 Grad auf und betonen durch Treppenstufen oder Geländerführung stets die Mittelachse.
Abb. 7: Stadtplan für den Wiederaufbau nach 1822 (Pfeil: Grundstück Unterm Hagen 10) Quelle: Stoob, Heinz (1975) Westfälischer Städteatlas |
Die Häuser verwenden Schiefer zur Vertäfelung und Bedachung und weisen weißlackierte Kranzgesimse und Fensterrahmen auf.“[x] Die Häuser sind freistehend gebaut. Der Ortskern wird von zwei parallel verlaufenden Hauptstraßen, der Weststraße und der Oststraße, gebildet. Sie sind durch Querstraßen miteinander verbunden, wie eine Leiter mit ihren Sprossen. Die Hauptstraßen wurden zum Schutz vor Feuer breiter angelegt (vgl. Abb. 8 und 9). „Später errichtete Neubauten wurden im traditionellen Stil - Fachwerk mit Schieferdächern und Schieferverkleidung – ausgeführt.“[xi]
In Schmallenberg gab es eine lange Tradition der Wollverarbeitung. Den Rohstoff Wolle lieferten Schafe. Außerdem wurden pflanzliche Faserstoffe verwendet.
Das sauerländische Klima begünstigte besonders den Anbau von Flachs.[xii] In Heimarbeit wurden die Garne gesponnen, und in den Wintermonaten strickte man daraus Socken und Strümpfe. In den Jahren nach 1850 begann das Wachstum der Schmallenberger Wollindustrie. Es gab erste Spinnereien und Strickereifabriken. Die Stadt blühte wieder auf und wurde schnell zum Zentrum der Sauerländer Textilindustrie. Man gab ihr den Beinamen ‚Strumpfstadt‘.
Die beiden Weltkriege forderten zahlreiche Opfer unter der Schmallenberger Bevölkerung. In den letzten Tagen des zweiten Weltkriegs kam es zu schweren Kampfhandlungen rund um Schmallenberg. Nach dem Krieg kamen viele Heimatvertriebene aus den ehemaligen Ostgebieten. Die Stadt stand einmal mehr vor großen Herausforderungen, die sie auch diesmal meisterte. Gerade in den 1950er bis 1980er Jahren bedeutete die Textilindustrie einen großen Rückhalt für Schmallenberg, aber zunehmend auch Tourismus und Handel, Land- und Forstwirtschaft sowie ein expandierendes Bauhandwerk.
3.3 Das Gartengrundstück ‚Küttelbicke‘
Nach dem Stadtbrand 1822 und dem Wiederaufbau der Stadt waren in den neu errichteten Ackerbürgerhäusern Menschen und Tiere gleichermaßen untergebracht. Die Kuh des kleinen Mannes war die Ziege. Sie brauchte wenig Platz und fand an jeder Böschung Nahrung. Am Tag wurden die Kühe, Ziegen und Schafe außerhalb der Stadt zur Weide gebracht und am Abend wieder nach Hause in den Stall geholt. Der Feldweg in die Stadt war für die Tiere recht steil. Oben angekommen lösten sie sich gerne vor dem Gartengrundstück, das ‚Küttelbicke‘ genannt wurde. Das frische Gras lockte zum Fressen oder auch mal nur zum ‚Picken‘. Eine Ziegendeckstation in der Nachbarschaft war ein Grund für die Namensgebung. Die Querstraße muss häufig von ,Kütteln‘ übersät gewesen sein.
In der plattdeutschen Sauerländer Mundart sind ‚Küttel‘ der Darminhalt von Schafen und Ziegen und ‚Bicke‘ bedeutet beißen oder auch picken. Das Sauerland gehört zum niederdeutschen Sprachgebiet, weshalb hier über Jahrhunderte hinweg das Sauerländische Platt gesprochen wurde. Es handelt sich um einen Dialekt, dessen Aussprache in jedem Dorf leicht anders war.
Abb. 8: Der Situationsplan von 1891 zeigt die Lage des Grundstücks für den Neubau des Wohnhauses von David Frankenthal an. Die Freifläche wurde von den Schmallenbergern ,Küttelbicke‘ genannt. Zu den Gärten führten Feldwege. Zur Weststraße bestand bereits eine breite Querstraße. Die ehemaligen Feldwege wurden später Unterm Hagen und Gartenstraße benannt. Quelle: Privates Archiv
Die Stadt wurde nach dem Stadtbrand immer mehr erweitert.[xiii] Die ehemaligen Gartengrundstücke Unterm Hagen wurden zu Baugrundstücken. Nachdem die benachbarten Gartengrundstücke bereits bebaut waren, wurde 1891 das Wohn- und Geschäftshaus der Familie Frankenthal auf der Parzelle Unterm Hagen 10 errichtet. Die Schmallenberger nannten die Straße, aber insbesondere das bis zuletzt unbebaute Grundstück, weiterhin ‚Küttelbicke‘. Bis in die späten 1970er Jahre wurden Kühe noch auf diesem Weg morgens auf die Weiden gebracht und abends zurück in den Stall im Haus geholt.
3.4 Jüdisches Leben in Schmallenberg
Seit dem 13. Jh. Sind jüdische Siedlungsspuren im nördlichen und westlichen Sauerland nachweisbar.[xiv] „Nach dem Dreißigjährigen Krieg kam es zu einer stärkeren jüdischen Besiedlung im Herzogtum Westfalen. Jüdische Einwohner sind bereits vereinzelt in der Stadt Schmallenberg seit 1685 nachweisbar. Im Schatzungsregister des Herzogtums Westfalen wird eine jüdische Familie ohne Namensnennung aufgeführt.“[xv] Nach 1808 nahmen die Schmallenberger Juden aufgrund der gesetzlich eingeführten Nachnamenspflicht deutsche Familiennamen an.[xvi] Die Juden erhielten 1841 die bürgerlichen Rechte, jedoch nicht die staatsbürgerlichen. Zur Niederlassung oder Heirat benötigten sie immer noch besondere Genehmigungen.
Das Judentum galt noch immer als unvereinbar mit den Grundsätzen eines christlichen Staates. Erst 1850 gestand man ihnen unabhängig ihres religiösen Bekenntnisses bürgerliche und staatsbürgerliche Rechte zu.[xvii] Die Ausübung von Staatsämtern blieben ihnen jedoch verschlossen, „weil sie den christlichen Eid (,So wahr mir Gott helfe‘) nicht leisten konnten.“[xviii] 1869 wurde die politische und rechtliche Gleichheit aller Bürger vom Religionsbekenntnis unabhängig festgelegt und mit der Gründung des Kaiserreichs als Reichsgesetz übernommen.[xix]
1857 wurde die Synagoge in der Schmallenberger Nordstraße errichtet. Eine Synagoge ist ein Gebäude, das dem gemeinsamen Gottesdienst und auch als Schule einer jüdischen Gemeinde dient.[xx] Eine Synagoge mitten in der Stadt, an einer Straße, bauen zu dürfen, ist ein sichtbar machendes Zeichen für Sicherheit und Gleichberechtigung. Es symbolisiert die Stellung der Juden in Schmallenberg zu dieser Zeit. Mit dem Bau der Synagoge wurde der Straßenname sogar in Synagogenstraße unbenannt. Auch dieses war ein Zeichen der Akzeptanz seitens der Schmallenberger Bürger.
Die jüdische Gemeinde in Schmallenberg entwickelte sich Ende des 19. Jahrhunderts aus einer streng orthodoxen zu einer liberal ausgerichteten Gemeinde.[xxi] Von der Ausübung von Zunft-Handwerken ausgeschlossen, trieben Juden vorwiegend Handel und waren, aufgrund ihrer religiösen Schlachtvorschriften, vielfach als Metzger und Viehhändler tätig. Nur so hatten die Juden in den ländlichen Regionen die Möglichkeit, koscheres Fleisch zu erhalten.
Beim Stadtbrand 1822 brannten auch die vier Häuser in jüdischem Besitz ab. Beim Wiederaufbau der Stadt erhielten die jüdischen Familien Grundstücke auf der Weststraße, worauf sie ihre neuen Häuser errichteten. Auch an der Oststraße, der zweiten Hauptstraße, kauften Juden später bereits erbaute Häuser. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren aus den Handelsmännern, die über Land zogen und von Haus zu Haus gingen, um ihre Waren zu verkaufen, selbständige Kaufleute geworden. West- und Oststraße waren für Händler besonders interessant. So befanden sich die meisten Häuser jüdischer Händler und Kaufleute in exponierter Lage auf Eckgrundstücken an der Ost- und Weststraße. Bei Geschäften auf Eckgrundstücken konnten die angebotenen Waren zugleich in Schaufenstern an zwei Hausseiten gezeigt werden.
Die ersten Spinnereien und Strickereifabriken, die gegründet wurden, waren zum Teil in jüdischem Besitz.[xxii] Dass die Wirtschaft in Schmallenberg florierte, lag auch mit an der jüdischen Bevölkerung.[xxiii] Die meisten Juden in Schmallenberg waren selbständig und damit Teil des „kommerziellen und industriellen Bürgertums“[xxiv]. Lange Zeit waren Juden hier und auch anderswo gesellschaftliche Außenseiter gewesen, doch mit dem Aufblühen der Textilindustrie in Schmallenberg wurden die Juden immer mehr akzeptiert. Diese Akzeptanz und das wirtschaftliche Wachstum in der Stadt bewirkten den Zuzug weiterer jüdischer Familien: 1855 lebten 27 Juden in der Stadt, bis 1932 waren es 52 Juden.
Abb: 9: Pflasterarbeiten zur Befestigung an der Weststraße zu Beginn des 20. Jh. Quelle: Bildzitat Historischer Stadtrundgang Schmallenberg, Station 3 Verkehr und Straßen |
Gesellschaftlich waren die Juden zusehends in Schmallenberg integriert. Es war „eine Zeit der fast selbstverständlichen Gleichberechtigung, der gesellschaftlichen Offenheit auf beiden Seiten, der freundlichen bis freundschaftlichen Nachbarschaft, der Vereinszugehörigkeit.“[xxv] Beispiel des gesellschaftlichen Miteinanders ist das städtische Schützenwesen. 1910 wurde Max Frankenthal als erster jüdischer Bürger Vize-Schützenkönig. Zehn Jahre später war sein Schwager Karl Friedrich Schützenkönig. Seine jüdische Ehefrau Selma, geb. Frankenthal, war Mitregentin. Emil Frankenthal, ihr Bruder, war viele Jahre lang Schützenoffizier im Schützenverein. Es war eine Zeit des fröhlichen Miteinanders.
Eine Nachbarin erzählte mir häufig von ihrer jüdischen Freundin. Sie haben zusammen auf der Synagogenstraße (während der Nazizeit in Nordstraße umbenannt) und Unterm Hagen vor den Häusern gespielt. Manchmal sind sie auch heimlich durch ein offenes Fenster in die Synagoge geklettert. Dieses selbstverständliche Miteinander, so sagte sie, änderte sich erst mit der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten.
4 Geschichte der Familie Frankenthal
Am 17. August 1881 heiratete der jüdische Metzger und Viehhändler David Frankenthal aus Altenlotheim in Hessen die jüdische Schmallenbergerin Emma Stern. „Bald nach der Hochzeit des jungen Paares kamen innerhalb von zehn Jahren fünf Söhne und als jüngstes Kind eine Tochter zur Welt.“[xxvi] Julius wurde 1881 geboren, Max 1883, Josef 1884, Emil 1886, Sally 1888 und Selma 1891. Im Geburtsjahr von Selma 1891 wurde ein großes Wohn- und Geschäftshaus in der Straße Unterm Hagen errichtet, in dem sowohl Viehstall und Schlachthaus als auch ein Metzgerladen und ausreichend Wohnraum für die große Familie untergebracht waren.
Abb. 10: Seite V. der Baupläne von 1891 (Vorderansicht und Längenschnitt)
Quelle: Privates Archiv
Gegen Ende des Jahrhunderts drohte David Frankenthal die Zwangsversteigerung, die er mit Mühe abwenden konnte. Nach seinem frühen Tod mit gerade mal vierundvierzig Jahren erbte seine Witwe das Haus. Die Söhne übernahmen den Familienbetrieb. Im Jahr 1909 drohte noch einmal eine Zwangsversteigerung, doch die Familie schaffte diese Krise auch diesmal abzuwenden.
Im ersten Weltkrieg waren die fünf Brüder Soldaten. Sie alle kehrten aus dem Krieg zurück. Josef, der dritte Sohn der Familie, starb jedoch im Alter von 38 Jahren 1922 an seinen späten Kriegsverletzungen.
Als die übrigen Brüder und ihre Schwester Selma selbst Familien gründeten, blieben sie zunächst im Elternhaus mit ihrer Mutter Emma wohnen. Max baute 1927 ein eigenes Haus, Emil zog 1929 in die Nachbarschaft und Selma in eine Mietwohnung in Schmallenberg. Trotzdem blieb das Elternhaus für sie, die Kinder und Enkelkinder, das Zuhause.
Nach dem ersten Weltkrieg betrieben die Brüder Julius, Max und Sally Frankenthal gemeinsam den Viehhandel und Emil die Metzgerei. Seit dem Tod der Mutter 1927 gehörte Julius und seinem Bruder Sally das Haus. Julius starb mit 54 Jahren im Jahr 1934. Er hinterließ seine junge Frau Selma und zwei unmündige Kinder Margot und Else. Seit dem Tod der Schwiegermutter und dem Auszug des Schwagers Max und seiner Familie hatte Selma Frankenthal ihren Vater Josef Stern mit in das Haus aufgenommen. 1934 übernahm Selma den halben Anteil ihres Mannes am Haus und Hof mitsamt Wirtschaftsgebäude.[xxvii]
Der vierte Sohn Emil war kurz vor Kriegsende in englische Gefangenschaft geraten und kehrte 1919 nach Hause zurück. Er hatte das Metzgerhandwerk gelernt und konnte die Metzgerei im Elternhaus weiterführen. Mit Ehefrau Paula und Tochter Helga wohnten sie in der Nachbarschaft.
Abb. 11: Familie Frankenthal gegen Ende der 1920er Jahre auf der Eingangstreppe des Hauses (oben rechts: Emil Frankenthal) Quelle: Bildzitat Norbert Otto (2015) Stolpersteine, S. 223, |
Sally Frankenthal war, wie schon sein Vater, Viehhändler. Nach dem Tod des Vaters und seiner Brüder Josef und Julius führten die übrigen Brüder gemeinsam die Geschäfte weiter. „Max war offenbar der Kopf… Abrechnungen und Buchführung lagen in seiner Hand.“[xxviii] Sally war mit Erna, geborene Gonsenhäuser, verheiratet. Sie hatten die drei Töchter Hanni, Irma und Grete. Erna erkrankte schwer und verstarb 1941 mit nur 37 Jahren.
Tochter Selma wurde 1891 geboren. Sie war das jüngste der sechs Kinder von David und Emma Frankenthal und zugleich die einzige Tochter. In ihrem Geburtsjahr begann der Hausbau der Familie Frankenthal. In diesem Haus wohnte Selma bis zu ihrer Hochzeit im Jahre 1910. Ihr Mann Karl Friedrich war evangelisch und kein Jude. Die Großfamilie Frankenthal sah das nicht gern, doch die beiden setzten sich durch. Ihr Ehemann war reisender Handelsmann, wurde aber später Viehhändler wie seine Schwäger. Karl Friedrich starb jedoch sehr früh. Die beiden Söhne Karl jun. und Emil galten nach den Rassegesetzen von 1935 als Halbjuden. Selma und Karl Friedrich lebten demnach in einer Mischehe.
Abb. 12: Seite IV. der Baupläne von 1891 (Querschnitt und Seitenansicht von Norden) Quelle: Privates Archiv |
4.1 Geschichten: Mit dem neuen Wissen lernt man sein eigenes Haus neu kennen
Als das Haus gebaut wurde, gab es im Haus kein Badezimmer. Die Menschen haben damals anders gelebt als heute: gebadet wurde einmal in der Woche, nacheinander mit dem gleichen Wasser in einer Zinkwanne. Die wurde in die Küche gestellt, denn dort gab es einen Steinboden. Das Plumpsklo über dem Stall war da, wo man es tagsüber brauchte und wo man arbeitete. Nachts benutzte man einen Nachttopf, der am Morgen auch schon mal über die Fenster entleert werden konnte. Die tägliche Hygiene wurde in der Küche erledigt. All das war normal in dieser Zeit. Die große Familie saß hier gemeinsam zum Essen am Tisch, wenn es das Geschäft zuließ. Die Küche war der zentrale Ort für die ganze Familie. Hier haben sie zusammen gelacht und zusammen geweint.
Abb. 13: Seite II. der Baupläne von 1891 (Grundriss von Keller- und Erdgeschoss)
Quelle: Privates Archiv
Im Kellergeschoss waren Schlachthaus und Wurstküche untergebracht. Es gab einen Keller für Gemüse, Lagerobst, Eingemachtes und sicherlich auch eine ,Kartoffelbanse‘. Hier war es kühl und dunkel, die Vorräte konnten gut gelagert werden. Im Stall wurden Tiere gehalten. Es gab einen kleinen Futtergang, um die Tiere zu versorgen. Als Metzger und Viehhändler brauchte man zur Entsorgung eine Blutgrube und eine Abortgrube. Im Sauerland sagen wir ,Miste‘ dazu. Durch eine Klappe am Boden konnte man einfach den Mist aus dem Stall auf die Miste nach draußen schieben.
In der oberen Etage waren die Schlafzimmer. In dem Familien-Schlafzimmer schliefen die Eltern mit den kleinsten Kindern. Ein kleiner Raum wurde dem Gesellen zur Verfügung gestellt. Kost und Logis waren frei. Er aß mittags mit den anderen am Tisch. Abends konnte er sich in seine Stube zurückziehen, die er für sich allein hatte.
In den anderen Zimmern schliefen immer mehrere Personen in einem Zimmer. Die kleinen Kinder spielten im Haus. Bei gutem Wetter immer auf der Straße. Die Größeren mussten mithelfen. Abends waren alle müde, und nach dem Beten wurde das Licht ausgeschaltet. Auch die Rauchkammer war auf dieser Etage. Würste und Schinken hingen hier zum Räuchern von oben herab und müssen himmlisch geschmeckt haben.
Die Wagenremise, als Anbau auf dem Situationsplan (Abb. 9) an der Südseite des Wohnhauses zu sehen, wurde später abgerissen und auf dem Hof neu und größer erbaut. In der Remise standen Fuhrwerke. Zusätzlich wurde das Wirtschaftsgebäude auch als Stall genutzt.
Beschäftigt man sich heute mit der Nutzung der Räumlichkeiten, vermitteln einem Haus und Remise eine andere Sichtweise: Man versteht die Lebens- und Arbeitsweise der damaligen Zeit, erkennt die Logik der Arbeitsabläufe und ist überrascht, wie praktisch alles miteinander verbunden war.
Abb. 14: Seite III. der Baupläne von 1891 (hintere Ansicht und Grundriss der 1. Etage) Quelle: Privates Archiv |
4.2 Das Leben Schmallenberger Juden im Nationalsozialismus
Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten begann auch in Schmallenberg die Ausgrenzung der jüdischen Bevölkerung. Erste Trennlinien waren das Leugnen jüdischen Lebens, etwa die Umbenennung von Straßennamen. Aus der Synagogenstraße wurde laut Stadtratsbeschluss im August 1933 wieder die Nordstraße.
Am 10. November 1938 wurde die Schmallenberger Synagoge angezündet. Bald darauf wurden Wohnungen jüdischer Bewohner gewaltsam verwüstet und alle jüdischen Männer verhaftet. Viehhändler und Handelsvertreter verloren ihre gewerblichen Zulassungen und wurden zu Zwangsarbeit verpflichtet. Unternehmer mussten ihre Firmen verkaufen, die jüdischen Einwohner ihre Häuser aufgeben und in sogenannte ,Judenhäuser‘ umsiedeln.
Ab dem 15. November 1938 durften die jüdischen Kinder nicht mehr die katholische Volksschule besuchen. Sie bekamen Unterricht von einem jüdischen Lehrer in einer jüdischen Schule (Judenhaus Weststraße 1) Auch diese Schule wurde später geschlossen.
Die Telefone der Juden wurden abgeschaltet und Radios eingezogen. Das alles waren Maßnahmen zur Isolierung der Juden. Man nahm ihnen die Möglichkeit, sich zu informieren. Wohnungen und Keller wurden nach Hamsterware durchsucht und beschlagnahmt. Ausgehverbote für Juden wurden erlassen. Eine weitere Schikane war, dass sie nicht mit ,Heil Hitler‘ grüßen durften. Das machte sie anders als andere. Es geschahen geschäftsschädigende Maßnahmen, um die Juden aus der Wirtschaft zu drängen und die Arisierung voranzutreiben.
4.3 Judenhäuser
Judenhäuser wurden zur besseren Überwachung der Juden ghettomäßig genutzt. Das bedeutete, dass „zusätzlich zu den bisherigen Bewohnern, teilweise auch anstelle der ehemaligen Bewohner, […] von der Stadt Personen eingewiesen [wurden], die ihre eigenen Wohnungen und Häuser verlassen und nun auf engstem Raum leben mussten.“[xxix]
Auch das Haus Unterm Hagen 10 (heute Oberer Hagen 8) kann als Judenhaus bezeichnet werden. „Hier wurden jedoch keine neuen jüdischen Mieter eingewiesen, sondern die ehemaligen Besitzer, die Witwe Selma Frankenthal geb. Stern mit ihren beiden Töchtern sowie ihr Schwager Sally Frankenthal mit seiner Familie, verblieben dort als Mieter bis zu ihrer Deportation“[xxx]. Die Regeln aber waren, wie in einem Judenhaus: „Diese Gebäude, deren Haustüren mit einem Davidstern gekennzeichnet waren, durften abends nicht abgeschlossen werden, und in jedem Flur musste eine Liste mit den Namen aller Bewohner hängen, so dass jeder kleine Polizist abends und nachts in die Wohnungen eindringen und nachzählen konnte.“[xxxi]
„Auf diese Ghettohäuser konzentrierte sich aber auch die Hilfsbereitschaft mancher nichtjüdischer Schmallenberger und auch mancher Dorfbewohner aus der Umgebung. So sollen sich zu Weihnachten 1938 hinter den Häusern die Geschenkpakete regelrecht gestapelt haben.“[xxxii] Es bleibt zu hoffen, dass dieses auch hinter dem Haus Frankenthal so war. Am 28. April 1942 begannen die Deportationen der Schmallenberger Juden. Fast alle wurden ermordet. 1943 war Schmallenberg ,judenfrei‘.
Nach dem Krieg kehrten einige Juden nach Schmallenberg in ihre alten Häuser zurück. Für sie war die Nachkriegszeit schwierig, weil sich die alten Eigentumsverhältnisse geändert hatten, und „auch weil die Schmallenberger nichts von der Vernichtung der europäischen Juden wissen wollten und den rückkehrenden Frankenthals nicht glaubten, was sie ab und zu erzählten. Des Vaters Max Frankenthals letzte Worte zu seinen Söhnen an der Rampe in Auschwitz: ,Solltet ihr überleben, geht nach Schmallenberg zurück‘, hat Hans Frankenthal als schwere Bürde empfunden: ,Verflucht habe ich viele, viele Jahre diesen Satz.‘“ [xxxiii]
4.4 Stolpersteine und ihre Geschichte
Der Kölner Künstler Gunter Demnig verlegte am 31. Mai 2012 in Schmallenberg 36 Stolpersteine. Gedacht werden sollte der Juden, die in der Zeit des Nationalsozialismus umgebracht worden sind. Verlegt wurden die Gedenksteine vor den jeweiligen Häusern, in denen die Ermordeten zuletzt gewohnt haben. Vor dem Haus Oberer Hagen 8 sind neun Stolpersteine verlegt, unter anderem auch ein Stolperstein für Margot Frankenthal, Tochter von Julius Frankenthal und Selma, geb. Stern.
Sie ist als 16-jährige ausgewandert und hat dadurch den Holocaust überlebt. Nach dem Krieg hat sie 1947 einen Brief geschrieben. Dieser Brief liegt vor, wurde aber erst nach Verlegung der Stolpersteine entdeckt. „Neu aufgenommene Internetrecherchen ergaben stimmige Hinweise auf Margot Goetz geborene Frankenthal: Geburtsdatum, Namen der Eltern. Danach hat Margot Frankenthal in New York gelebt, geheiratet, zwei Töchter bekommen. Als Todesdatum wird der 14. Januar 2001 genannt, letzter Wohnort: Suffern, New York.“[xxxiv]
Margots Großvater Josef Stern ist als 82-jähriger in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert worden und dort umgekommen. Er hatte nach dem Tod seiner Ehefrau bis zu seiner Flucht aus Deutschland mit dem Ziel USA im Frankenthalschen Haus bei seiner Tochter Selma gelebt. Sein Gedenkstein befindet sich nicht vor dem Haus. Ich möchte hier an ihn erinnern.
Deportiert 1942 und ermordet im Ghetto Zamosc: Else Frankenthal (16 Jahre), Tochter von Julius und Selma Frankenthal geb. Stern Helga Frankenthal (11 Jahre), Tochter von Emil und Paula Frankenthal geb. Löwenstein Hanni (14 Jahre), Irma (12 Jahre) und Grete Frankenthal (10 Jahre), Töchter von Sally und Erna Fankenthal geb. Gonsenhäuser |
Die Kinder der Familie Frankenthal haben zunächst unbeschwerte Lebensjahre in ihrem Elternhaus und in der Nachbarschaft zugebracht. Das Bewusstsein, jüdisch zu sein, haben sie in aller Härte nach der Pogromnacht wahrgenommen. Die Kinder Else, Helga, Hanni, Irma und Grete mussten ungeachtet ihrer Kindheit das ganze Ausmaß des Verbrechens erleiden. Sie wurden in das Ghetto Zamosc deportiert. Keiner der Deportierten aus der Familie ist von dort zurückgekehrt. Eineinhalb Millionen Kinder sind im Holocaust ermordet worden. Kinder sind die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft.
Abb. 15–17: Gunter Demnig beim Verlegen von neun Stolpersteinen vor ,unserem Haus‘ am 31. Mai 2012 Quelle: Privates Archiv |
„Selma Friedrich hat als einziges der zahlreichen Kinder und Schwiegerkinder des David Frankenthal und seiner Frau Emma das Elend und die Todesgefahren der Judenverfolgung, der Konzentrationslager und des Krieges lebend überstanden“[xxxv].
Auch ihre Söhne Karl jun. und Emil Friedrich kehrten nach dem Krieg nach Schmallenberg zurück. Karl jun. war in Hagen-Haspe in einem Internierungslager gewesen. Dort wurden Nachkommen aus „Mischehen“ gefangen gehalten. Nach seiner Rückkehr hatte er in der Weststraße einen Metzgerladen. Schlachthaus und Wurstküche waren im Haus Unterm Hagen 10. Emil Friedrich hatte die Gewaltherrschaft der Nazis ebenfalls überlebt. Nach dem Rassegesetz von 1935 war er als ,Halbjude‘ aus der Wehrmacht zwangsentlassen worden. Während des weiteren Kriegsverlaufs hatte er sich an mehreren Orten im Sauerland verstecken können. Zusammen mit seiner Frau Wilhelmine, geb. Müller, wohnten sie nach dem Krieg zunächst im alten Frankenthalschen Haus Unterm Hagen 10.
Ernst und Hans Frankenthal waren die Söhne von Max und Adele Frankenthal, geb. Meyer. Sie waren als 14- und 15-Jährige zur Zwangsarbeit gezwungen und später in verschiedene Konzentrationslager verschleppt worden. Schwer an Körper und Seele verletzt, überlebten sie den Holocaust, kamen nach Schmallenberg zurück und wohnten in ihrem Elternhaus an der Obringhauser Straße.
5 Aus ‚unserem‘ Haus wird ‚sein‘ Haus
Das Haus Unterm Hagen 10 war von 1891 bis 1939 im Besitz der jüdischen Familie Frankenthal. David Frankenthal hatte es erbaut, um sich und seiner Familie ein Heim und eine Existenz zu geben. Die Großfamilie hatte hier ihr sicheres Zuhause. Aber plötzlich war alles anders. ,Unser Haus‘ war plötzlich ,sein Haus‘. Das Haus der Familie Frankenthal kam zwangsweise in ,arische‘ Hände.
5.1 Mieter im eigenen Haus
Als am 10. November 1938 die Synagoge brannte, suchte man bald darauf auch das Haus der Familie Frankenthal heim und verwüstete es. Metzgereieinrichtung und Ladengeschäft wurden völlig zerstört. Das Haus wurde geplündert und der Hausrat aus dem Fenster geworfen. Nach dem Novemberpogrom verloren Selma Frankenthal und ihr Schwager Sally das Eigentum an Haus und Grund. Selma, ihre Kinder und ihr Vater Josef Stern, sowie die fünfköpfige Familie Sally Frankenthal, waren von nun an nur noch ,Mieter‘ im eigenen Haus. Bis auf Selma Frankenthals Tochter Margot, die frühzeitig Deutschland verlassen hatte, wurden sie allesamt später deportiert und umgebracht. Der neue ,arische‘ Besitzer des Hauses ließ den Metzgerladen zu Wohnräumen umbauen.
5.2 Rückerstattung und Wohnrecht
Abb. 18: Brief von Margot Goetz, geb. Frankenthal, vom 1. November 1947 Quelle: Privates Archiv |
Nach der Rückkehr der Überlebenden blieben diese weiterhin nur Mieter im ,eigenen Haus‘. Erst am 5. Februar 1953 wurde das Haus an Frau Selma Friedrich rückübertragen. Bis dahin war immer noch der Eigentümer im Grundbuch von Schmallenberg eingetragen, der sich das Haus 1938 durch erpressten Vertrag angeeignet hatte.
In einem Brief vom 1. November 1947 fragt Margot Goetz nach, wer konkret im Haus wohnen würde, und stellte klar fest, dass das Haus ohne ihr Einverständnis weder verändert noch veräußert werden darf.
Sie hoffte wohl auf ein Wiedergutmachungsgesetz, das es aber unter dieser Bezeichnung nie gegeben hat.
„Den Anfang machten die Militärregierungen der drei westlichen Besatzungszonen, wobei die amerikanische voranging.
Die westlichen Siegermächte erließen zwischen 1947 und 1949 Rückerstattungsgesetze, die später in deutsches Recht inkorporiert wurden. Ergänzend trat erst 1957 das Bundesrückerstattungsgesetz, kurz BRuG hinzu.“[xxxvi]
Das Haus hatte den Krieg weitestgehend unbeschadet überstanden. Heimatvertriebene, Flüchtlinge und ausgebombte Schmallenberger waren hier einquartiert worden. Mit nahezu 700 Flüchtlingen und Evakuierten bis 1946 war die Einwohnerzahl Schmallenbergs sprunghaft angestiegen, und Wohnraum war knapp.[xxxvii]
Die Rückkehrer der Familie Friedrich konnten im Haus wohnen, aber nicht als Hauseigentümer. Selma Friedrich wohnte hier als ,Mieterin‘. Ihr älterer Sohn Karl Friedrich jun. hatte die Räumlichkeiten im Kellergeschoss ,angemietet‘. Dort befanden sich Schlachthaus und Wurstküche. Nach dem Ende des Krieges hatte auch Emil Frankenthal, der sich während der Herrschaft der Nationalsozialisten verstecken konnte, mit seiner Frau hier eine Zeit lang ,zur Miete‘ gewohnt, bis sie beide 1952 auszogen.
Erst „1953 setzte Selma Friedrich mit der Erbengemeinschaft die Rückerstattung des Hauses Unterm Hagen 10 beim Wiedergutmachungsamt Arnsberg durch. In einem Vorvertrag mit dem Möbelkaufmann Erich Knappstein vom 2. März 1953 sicherte sie den Verkauf des Hauses zu, konnte aus dem zu erwartenden Verkaufserlös drei Miterben abfinden, bekam daraufhin das Haus als Alleinerbin zugesprochen und verkaufte es zwei Wochen später an Erich Knappstein.“[xxxviii]
Abb. 19: Adele Frankenthal mit ihren Söhnen Hans und Ernst, Unterm Hagen 10 (um 1927) Quelle: Bildzitat Norbert Otto, Stolpersteine, S. 222 |
Im Grundbuch von Schmallenberg war der ,Arier‘ eingetragen, der sich Haus und Grundstück 1938 durch einen erpressten Kaufvertrag angeeignet hatte. Die Erbengemeinschaft Frankenthal musste erst einen Antrag auf Rückerstattung stellen.[xxxix] Dass man sein eigenes Heim wieder sein Eigen nennen konnte, bedurfte eines langjährigen Verfahrens. Tatsächlich war es bis 1953, also acht Jahre nach Kriegsende, immer noch Eigentum der Person, die seit 1938 im Grundbuch stand.
Mit der Rückerstattung verbunden war keine Wiedergutmachung, sondern nur die Wiederherstellung alten Rechts am Eigentum des Hauses. Dabei war es so viel mehr.
Die Erbengemeinschaft Frankenthal, bestehend aus Selma Friedrich, Margot Goetz sowie den Brüdern Hans und Ernst Frankenthal, hatte Selma Friedrich den Verkauf des Hauses gestattet. Vielleicht war es der Tatsache geschuldet, dass Agnes Knappstein ebenso wie Selmas Ehemann aus Meggen stammte und auch in Schmallenberg eine neue Zukunft aufbauen wollte, dass das Haus Unterm Hagen 10 an Ehemann Erich Knappstein verkauft wurde.
Selma Friedrich „behielt sich lediglich ein vertragliches Wohnrecht vor. Auf das verzichtete sie schließlich gegen eine Abstandszahlung, konnte aber bis zu ihrem Lebensende am 1. September 1961 im Haus wohnen bleiben.“[xl]
,Seitdem ist ihr Haus, das zwischenzeitlich sein Haus war, unser Haus.‘ Seit dem 2. März 1953 ist die Familie Knappstein stolze Eigentümerin eines Hauses mit einer bewegten Vergangenheit. Bis zu ihrem Tode bewohnte Selma Friedrich drei Räume im Obergeschoss.
6 Geschichte der Familie Knappstein
Erich Knappstein wurde in Theten bei Grevenbrück geboren. Er hatte einen älteren Bruder Edmund und eine jüngere Schwester Erna. Sein Vater hatte dort ein Haus gebaut und verdingte sich als Tagelöhner in der Landwirtschaft. Mit 18 Jahren wurde Erich Knappstein zur Wehrmacht einberufen und absolvierte seine militärische Ausbildung nahe Pirna. Man versetzte ihn an die Ostfront bis in die Ukraine, wo er als motorisierter Postfahrer und in einem Minensuchkommando Dienst tat. Ende des Krieges geriet er in amerikanische Gefangenschaft.
Abb. 20: Schreiben der IHK Siegen vom 31. Juli 1948 Quelle: Archiv Möbel Knappstein |
Ausgehungert und ausgezehrt kehrte er im Herbst 1945 zurück und verliebte sich in Agnes Ludwig aus Meggen. Sie heirateten 1950 und hatten den Traum, sich als Möbelhändler selbständig zu machen. Die Versicherungskauffrau (Knappschaft) wusste durch ihren Beruf, dass nach dem Krieg, überall Möbel gebraucht wurden.
Erichs Bruder Edmund war in französischer Gefangenschaft gewesen. Ihm war es anders ergangen. Er kam mit einem offenen Wagen mit Weißwandreifen zurück, war voller Kraft und ein leidenschaftlicher Sportler. Die beiden ungleichen Brüder taten sich im September 1946 zusammen, um ein Handelsgeschäft zu eröffnen.
Zunächst wurde Ware gegen Ware getauscht. Das änderte sich am 20. Juni 1948 mit der Währungsreform, und man kaufte einen Lastwagen, um Möbel schneller und einfacher zu transportieren.
Am 31. Juli 1948 schrieb das Amtsgericht, dass das Geschäft sich seit seiner Gründung gut entwickelt und verhältnismäßig hohe Umsätze erzielte. Beschäftigt wurden fünf Belegschaftsmitglieder. Die Kaufleute Edmund und Erich Knappstein wurden aufgefordert, ihrer Eintragungspflicht in das Handelsregister nachzukommen. Gegen die gewählte Firmenbezeichnung ,Gebr. Knappstein Möbelhandlung‘ bestanden keine Bedenken.
Agnes Knappstein erkannte schnell, dass die Zusammenarbeit der beiden Brüder auf Dauer nicht funktionieren würde. Nach der Hochzeit zog das Ehepaar 1950 in die für sie ,goldene Stadt‘ Schmallenberg.[xli] Denn zu dieser Zeit gab es hier mehr Arbeitsplätze als Einwohner. Die Arbeiter wurden mit Bussen aus den umliegenden Dörfern herbeigeholt. Am 29. September 1952 trennten sich die Brüder einvernehmlich und Erich Knappstein verlegte den Firmensitz später nach Schmallenberg.
Die Arbeitsteilung war einfach: Agnes verkaufte die Möbel, die Erich mit dem Möbelwagen von Ostwestfalen und bis nach Hamburg hoch einkaufte und abholte. Eines Nachts, Ende der 50er Jahre, auf dem Weg zurück nach Schmallenberg nahm er einen Anhalter am Wegesrand mit. Dieser erzählte ihm, dass er demnächst heiraten wolle und eine Einrichtung und Aussteuer bräuchte. Von diesem Tag an, waren die Umsätze stabil. Erich Knappstein erzählte häufig, dieser Tag wäre ein Wendepunkt gewesen, und man habe seitdem an jedem Arbeitstag mindestens ein Möbelstück verkauft.
Erich Knappstein war zeitlebens ein Visionär. Seine Frau Agnes war die Zupackende. Eine gute Mischung, um den gemeinsamen Lebenstraum zu verwirklichen. In Schmallenberg mietete das junge Paar eine Wohnung in der Weststraße. Bald nach der Hochzeit wurden die Kinder Herbert (1951) und Annegret (1952) geboren.
Abb. 21-22: Möbelwagen bei der Beschriftung (um 1950) undvon der Seite Quelle: Archiv Möbel Knappstein |
Eines späten Abends im Jahre 1953 kam Erich Knappstein erschöpft und völlig ermüdet von seiner Tour zurück, als Agnes ihm eröffnete, ein Haus gekauft zu haben. Auf die Frage, ob sie es auch schon bezahlt hätte, verneinte diese es. Erich Knappstein soll dann gesagt haben: ,Gut, dann lass uns morgen darüber sprechen.‘ Selma Friedrich hatte sich einer Nachbarin anvertraut, dass sie einen Käufer für ihr Haus suche. Sonst drohe bei einer Zwangsversteigerung die Gefahr, dass der bis zuletzt eingetragene ,Arier‘ die Notsituation zum Anlass nehmen könnte, sich das Haus ein zweites Mal anzueignen. Sie hatte Angst, erneut ihr Zuhause zu verlieren, und wollte den neuen Eigentümer selbst bestimmen.
Drei Wünsche hatte die Erbengemeinschaft Frankenthal an einen potentiellen Käufer formuliert: Erstens sollte der neue Besitzer nicht aus Schmallenberg stammen, zweitens möglichst jung sein, damit drittens eine Nazivergangenheit weitestgehend ausgeschlossen werden konnte. Die Nachbarin machte Selma Friedrich auf ein junges Ehepaar aufmerksam, das in der Weststraße wohnte und ein Haus suchte. Noch am Abend gab es ein erstes Gespräch und auch eine Entscheidung. Agnes Knappstein wollte das Haus kaufen, und Selma Friedrich war damit einverstanden.
Man war sich handelseinig. Kurzerhand wurde im Erdgeschoss Platz geschaffen, um Möbel auszustellen. Doch zum Wohnen fehlte der Platz: Das Haus war gefüllt mit Heimatvertriebenen, die erst eine neue Bleibe suchen mussten. Dem schnellen Einzug folgte der Umzug zurück in die Weststraße und später wieder der Umzug in die freigewordenen Wohnräume. Mit Michael kam 1955 das dritte Kind im Haus (Oberer Hagen 8) zur Welt. Er ist das einzige von vier Knappstein-Kindern, das in ,unserem Haus‘ geboren ist. Ein Jahr später erfolgte 1956 der erste große Umbau zu einem Möbelgeschäft. Im Hochparterre wurden vier große Schaufenster und eine neue Zugangstür eingebaut.
Abb. 23: Bauzeichnung von 1957 Quelle: Privates Archiv |
6.1 Ladengeschäft im Hochparterre
Durch die Schaffung von vier Schaufenstern wurde 1956 eine große zusammenhängende Ausstellungsfläche geschaffen. An der Ostseite des Hauses hatte man die vorhandene Außentreppe um vier Stufen verringert und um fast die gesamte Hauslänge verlängert. So entstand eine Terrasse längs des Hauses. Auf der Südseite des Hauses wurde eine weitere Treppenterrasse mit vier Stufen für die anderen zwei Schaufenster geschaffen. Die Kunden konnten so die Möbelausstellung durch die vier Schaufenster betrachten.
Die neuen Ladenbesitzer waren sicher sehr stolz, als sie ihre Kasse im neu eröffneten Geschäft aufstellen konnten. Und glücklich, wenn die Lade sich öffnete und klingelte. Hinter der Möbelausstellung, in der ehemaligen Küchenkammer, war ein sehr kleiner Raum verblieben. Hier stand nur ein französisches Bett. Für mehr war kein Platz. Durch eine Holzwand von der Möbelausstellung getrennt, schliefen dort die Eltern auf engstem Raum.
Abb. 24: Schaufenster und Ladenzugang im Hochparterre Quelle: Archiv Möbel Knappstein |
Die von den Kunden bestellten Möbel wurden direkt bei den Herstellern abgeholt. Für die Auslieferung gab es zusätzlich einen Handwagen. Manchmal haben sich die Möbel entlang der Straße gestaut. Der Aufwand zum Einlagern war sehr groß und die Lagerfläche klein. Von der Straße weg mussten die Möbel schnellstmöglich - auch mit Handwagen - ausgeliefert werden, denn im Sauerland kann es schnell mal regnen.
Abb. 25: Werbung 1950er Jahre Schlafzimmer „Gisela“ Quelle: Archiv Möbel Knappstein |
Auf dem Dachboden schliefen die Kinder Herbert und Michael. Es waren Decken gespannt und die Kinder hatten so ein eigenes Zimmer. Die Anfänge waren mehr als einfach. Da jeder Platz gebraucht wurde, befand sich auch hier ein Möbellager. Um die Möbel hochzubringen, zog man sie über einen Flaschenzug durch eine Luke auf den Dachboden. Wenn die Luke geschlossen war, durften die Kinder im Lager zwischen den Möbeln spielen. Noch heute sind die Namen der damaligen Kommoden und Schränke in der Familie gut geläufig.
Abb. 26-28: Umbau Eingang und Schaufenster 1956 Vorderansicht in den frühen 1960er Jahren, v.l.n.r.: N.N., Michael, Herbert, Annegret und Agnes Knappstein Schaufenster mit Treppe an der Südseite, v.l.n.r.: Annegret, Michael und Herbert Knappstein, Cousine Helga Quelle: Privates Archiv |
6.2 Die Wirtschaftswunderjahre
Obwohl Selma Friedrich später auf ihr Wohnrecht gegen Zahlung einer Abstandssumme verzichtet hatte, lebte sie bis zu ihrem Tod im Haus. Sie hatte zwei große Räume im oberen Geschoss, die vormals Schlafzimmer waren. Recht früh besaß sie einen Fernseher. Die Knappstein-Kinder durften an die Zimmertür klopfen und fragen, ob sie bei ihr fernsehen dürften. Auch einen kleinen Vorratsraum, das ehemalige Gesellenzimmer, hat sie weiterhin bewohnt.
Nach dem Tod von Frau Friedrich konnten die drei Zimmer zusätzlich genutzt werden, aber nur zu besonderen Anlässen wie Weihnachten oder wenn Besuch kam. Nur dann wurden die beiden großen Räume beheizt. Das Wohnzimmer war die ,gute Stube‘, und das ,schöne Esszimmer‘ wurde nur zu besonderen Anlässen gebraucht. Das änderte sich erst mit Einzug des Fernsehgerätes. Von nun an war das Esszimmer ein Fernsehzimmer. Der ehemalige Vorratsraum von Frau Friedrich wurde abgerissen und kam zum Elternschlafzimmer dazu. Tochter Annegret schlief bis zum Umbau 1970 bei den Eltern, nur durch einen Vorhang getrennt.
Im Kellergeschoss wurde jeder freie Platz als Möbellager genutzt. Aus dem ehemaligen Schlachthaus und Stall war ein Möbellager geworden. Später nutzte man diese Räume als Nähstube. Der Keller blieb weiterhin Keller mit Kartoffelbanse, Regalen für Eingekochtes und später - einer Tiefkühltruhe. Der lange Weg in den dunklen Keller zum Holen der Vorräte war für die Kinder immer eine Mutprobe, bei der gerne laut gesungen wurde.
Im Hof nebenan befand sich die Remise, in der bis zu 25 Beschäftigte gleichzeitig gearbeitet haben sollen. Davor stand eine Wellblechgarage, in der eine kleine Schreinerwerkstatt untergebracht war. Die Remise diente im Dachgeschoss zur Möbellagerung, und im Erdgeschoss wurden dreiteilige Matratzen mit Kopfkeil und Sprungfederrahmen für Betten hergestellt. Das waren gelbe Holzrahmen mit einem Geflecht von Drahtteilen, die durch Spiralfedern aus Metall längselastisch miteinander verbunden waren. Schnell war auch dieser Raum zu klein, und neben der Remise wurde 1957 zusätzlich eine Holzgarage zum Lagern von Bettenrahmen gebaut. Die Firma wuchs, und es fehlte an zusätzlichen Flächen. Eine Zeit lang war fast das ganze Haus ein Lager. Ein Neubau im Industriegebiet, Meisenburger Weg 2 (heute Auf der Lake 4) schaffte ab 1957 ausreichend Flächen zum Produzieren und Lagern. Die Remise wurde zur Garage, die Wellblechgarage zog mit um. Aber einzelne Möbel verblieben auf dem Dachboden der Remise, der als Spielzimmer bis in die späten 70er Jahre bestehen blieb.
6.3 Umbau und Neuausrichtung
Das Jahr 1962 war ein schwieriges Jahr. Agnes Knappstein war in Meschede einen Fahrstuhlschacht zwei Stockwerke tief gefallen. Fast ein Jahr lang lag sie in einem Gips-Bett. Nach dieser für die Familie so schweren Zeit wurde 1964 Andreas, der jüngste Sohn geboren.
Die heranwachsenden Kinder brauchten mehr Platz, und die Raumaufteilung war nicht mehr zeitgemäß: „Durch Umbauten ist das Haus in seinem Grundriss sehr nachteilig. Es besteht kein gesonderter Eingang zur Wohnung des Eigentümers. Bei der Verpachtung der Geschäftsräume hat der Eigentümer nur noch durch den Keller Zugang zu den Wohnräumen. Die Wände des Hauses sind sehr ungleich, der Wohnraum entspricht nicht mehr modernen Wohnansprüchen“[xlii], begründet der Bauantrag den Erweiterungsbau 1970. Alle vier Kinder erinnern sich noch heute, wie sie entweder durch den Laden oder durch den Keller über die Kellertreppe ins Haus gekommen sind.
Abb. 29: Baupläne für einen Anbau von 1970 Quelle: Privates Archiv |
Das Haus wurde 1970 um einen zweistöckigen Anbau erweitert, bei dem das Dach gleichzeitig ein Balkon war. Der Zugang erfolgte über einen neuen Seiteneingang mit einer Zugangstreppe. Unten im Kellergeschoss war eine Garage und darüber ein großer Raum, Flur und eine Toilette. Der Raum sollte gemäß Bauantrag ein Spielzimmer werden. Tatsächlich wurde es ein ,Nähstübchen‘ für die Herstellung von Gardinen. Mit dem Seiteneingang waren Ladenlokal und Wohnung nun getrennt, was perspektivisch eine Vermietung des Ladenlokals erleichterte.
Es waren die 70er Jahre. Flower-Power auch im Bürgerlichen. Alles musste bunt, Silber oder Gold sein. Tapeten und Fliesen übertrafen sich in ihrer Farbauswahl, wie die ,Prilblume‘, das damalige Markensymbol eines Geschirrspülmittels. Fenster- und Türrahmen sollten möglichst groß und aus Aluminium sein. Bei den Möbeln setzte sich Eiche Beizton P43 für lange Zeit durch. In den Räumen zog Luxus ein, jede Etage bekam ein WC und die Schlafzimmer ein eigenes Handwaschbecken.
Das Bad wurde geteilt. Aus der ehemaligen Räucherkammer wurde ein Elternbad und ein Gäste-WC. Wichtigster Raum war die Küche. Die moderne Einbauküche war hellblau, hatte ein Drehkarussell für Töpfe, eine Spülmaschine und einen Backofen mit Automatikfunktion. Gegenüber stand eine blaue Eckbank mit einer aufklappbaren Sitzfläche und einer ,Truhe‘ darunter. Darin konnte alles Mögliche gesammelt und gelagert werden. Vor allem alte Zeitungen, denn Papier wurde damals gesammelt.
Von der Küche aus kam man durch eine moderne Alu-Schiebetür auf den Balkon. Allerdings nur selten, da der Balkon nach Westen ausgerichtet war und es häufig stürmte oder regnete. Im Sommer standen auf der Balkonbrüstung Blumenkästen mit Geranien, und im Winter war hier ein Weihnachtsbaum aufgestellt. Den hell erleuchteten Baum konnte man beim Essen von der Küche aus sehen.
Wenn wir heute ein Haus betreten und Spuren dieser Zeit sehen, dann sprechen wir häufig von Bausünden. Aber damals waren es moderne Errungenschaften und Zeitgeschmack. Es war Ausdruck eines neuen Lebensgefühls, die schweren Jahre der Nachkriegszeit erfolgreich hinter sich gelassen zu haben.
Ein neues Wohnhaus wurde ab 1975 in unmittelbarer Nachbarschaft gebaut. 1977 erfolgte der Umzug. Sohn Andreas zog mit den Eltern um, die erwachsenen Geschwister waren bereits ausgezogen. Aus dem Wohn- und Geschäftshaus mit einem knapp 100 qm großen Verkaufslokal und einer Möbelausstellung wurde bald ein Geschäftshaus mit wechselnder Nutzung.
Abb. 30: Peugeot 204 mit ,Prilblume‘ vor den Schaufenstern (um 1974) Quelle: Privates Archiv |
7 Die Auseinandersetzung mit der Historie des Hauses
Das Grundstück war von David Frankenthal hervorragend ausgesucht worden, um darauf ein Wohn- und Geschäftshaus zu errichten. Da Schmallenberg auf einem Bergrücken liegt, fallen die Seitenstraßen auf beiden Seiten zum Hang hin ab. Nur die zum Haus führende Straße Unterm Hagen, heute Oberer Hagen hat kein Gefälle. Das freistehende Haus wird von der Weststraße und auch von der Oststraße aus gut gesehen. Es steht auf einer Kreuzung von drei Straßen, mitten in Schmallenberg, quasi in zweiter Reihe. Der Standort war gut geeignet als Metzgerei und in den späteren Jahren auch als Möbelhaus, Woll- und Lebensmittel-, Gardinen- und Teppichgeschäft, Versicherungsagentur und Pressehaus. Eine wechselvolle Geschichte. Da die Firma Möbel Knappstein zusehends expandierte, war der Standort für ein modernes Möbelhaus schnell zu klein und wurde vom Unternehmen zuletzt von 1980 bis 1991 als Gardinen- und Teppichhaus auf vier Etagen genutzt.
7.1 Ein Haus lebt und atmet mit den Menschen, die darin wohnen
Ein Haus lebt und atmet mit den Menschen, die darin wohnen. Die Familie Frankenthal hat das Haus mit einer großen Familie gefüllt. So auch die Familie Knappstein bis in die späten 1970er Jahre. Danach war das Wohnhaus nur noch ein Geschäftshaus. Das Gebäude war in die Jahre gekommen und von zahlreichen Umbauten gezeichnet. Vieles entsprach nicht mehr den Ansprüchen einer attraktiven Fassadengestaltung. Auch im Gebäude war es eher geschäftlich und zweckmäßig als behaglich und schön.
Mein Mann und ich lebten Anfang der 1990er Jahre in Berlin und fühlten uns hier wohl. Wir waren angekommen und ein Zurück nach Schmallenberg war eigentlich keine Option. Es ging uns gut, und die Weichen, dass dieses auch in Zukunft so bleiben würde, waren gestellt. Doch es sollte anders kommen. Andreas‘ verlassenes Elternhaus, das heute ,unser Haus‘ ist, hatte eine große Anziehungskraft auf uns. Die Option, nach Schmallenberg zurückzukehren, verknüpfte er mit dem möglichen Eigentum an diesem Haus. Und genau so geschah es.
Wir zogen also zurück nach Schmallenberg und standen vor einem verwaisten Haus, das längst kein Wohnhaus mehr war. Es war gekennzeichnet von zahlreichen Umbauten, die wir Bausünden der Nachkriegszeit nannten. Viele Leute konnten unsere Entscheidung nicht nachvollziehen. Wir sahen den Reiz einer schmucken und historischen Kleinstadt und hatten die alten Baupläne des Hauses von 1891 vor Augen. Ein Traum war geboren, das Haus wieder so umzugestalten, wie es früher einmal war, und so, wie unser Zuhause in der Zukunft sein sollte. Dieser Prozess dauerte drei Jahrzehnte und verlief in mehreren Umbauphasen. Erst als im Frühjahr 2020 der Mieter wegen Corona das Ladenlokal verließ, konnte auch der vorerst letzte Bauabschnitt fertig gestellt werden.
Gleichzeitig gründeten wir hier eine Familie und bauten Haus, Hof und Remise nach unseren Vorstellungen um. Zunächst haben wir die obere Etage wieder zu einer Wohnung umgebaut, und die Familie bekam ein Zuhause. Tochter Katharina wurde 1993 geboren. Die zweite Tochter Viktoria kam 1994 zur Welt, verstarb aber kurz nach der Geburt. Sie hat ihr Elternhaus nie kennengelernt. Freud und Leid liegen oft nah beieinander. 1995 wurde unser Sohn Philipp geboren.
Heute ist das Haus kein Geschäftshaus mehr, sondern ein Wohnhaus. Einkäufe sind fußläufig zu erledigen. Kindergarten und Schule sind ebenso nah wie Arzt und Apotheke. Nach einem Kneipenbummel braucht man kein Taxi und häufig führt der Abendspaziergang sogar dorthin. Kinder können immer noch auf der Straße spielen und die Nachbarn sind nett. Man kennt sich. Man besucht sich und hilft einander.
Die Entscheidung zur Rückkehr nach Schmallenberg war eng verbunden mit dem Wunsch, das Haus wieder nach den alten Bauplänen von 1891 zurückzubauen und selbst darin zu wohnen. Das alte Fachwerkhaus, im traditionellen Stil erbaut, mit Schieferdach und Schieferverkleidung an den Seiten, hatte sein schönes Gesicht verloren. Für die Schaufenster kamen schmale lichtdurchlässige Sprossenfenster.
Eingerahmt von grünen Fensterläden wurde die fünfachsige, symmetrische Anordnung mit den weiß gestrichenen Holzfenstern wieder erkennbar. Eine weiße Türumrahmung im klassizistischen Stil, mit Pilastern verziert, schmückt die grüne Haustür. Heute hat das Haus wieder eine für Schmallenberg typische Natursteintreppe mit einer weiß gestrichenen Holzsitzbank, auf der man sich auch mal mit den Nachbarn unterhalten kann.
,unser Haus‘ |
Abb. 31-34: Gegenüberstellung der Gebäude Wohnhaus und Remise mit Fotos von 1991 und 2023, vgl. Abb.10 (1891) Quelle: Privates Archiv |
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Remise | |
Das kleine Haus, die Remise im Hof, war fast vergessen. Es ist ein romantisches Gartenhaus geworden, denn statt des asphaltierten Hofes ist hier auf schieferartigem Hackfelsen ein terrassierter Garten entstanden. Von der Straße aus kann man nur erahnen, wie wunderschön er ist. Ein Schmiedetor schützt vor fremden Blicken. Ein Kleinod mitten in der Stadt. Haus und Remise waren zwei alte, renovierungsbedürftige Gebäude. Mit Blick auf die Stadt und gleichzeitig ins Grüne sind die beiden Häuser zu Schmuckstücken geworden. Nicht mitten im Grünen, aber mit sehr viel Grün ringsherum. Zentral gelegen mit freier Sicht in alle vier Himmelsrichtungen.
7.2 Geschichten: Hinter der Fassade, zwischen den Wänden
Abb. 35: Fundstück ,wird nichts‘ Quelle: Privates Archiv |
Während der Coronapandemie kam das Ladenlokal zur Wohnung hinzu. Küche, Wohn- und Esszimmer sind wieder da, wo sie ursprünglich einmal waren. Die Holz- und Fliesenböden, die schlichten Wände mit Stuckverzierung und die hohen Decken vermitteln den Charme einer schönen Altbauwohnung im klassizistischen Stil. Ebenso die hohen Türen zwischen den einzelnen Räumen und zum Treppenhaus hin. Nur der Metzgerladen hat eine neue Funktion. Statt der vielen Wände im Eingangsbereich ist die gesamte Vorderseite zu einem einzigen Raum verschmolzen. In der oberen Etage sind wieder die Schlafräume und entgegen den Bauplänen von 1891 ein großes Badezimmer.
Der Umbau im Frühjahr 2021 während der Pandemie zwang uns zu eiserner Disziplin, zeitversetztem Arbeiten und viel Eigenleistung. Alles musste neu: Strom, Wasser, Heizung, Böden, Decken und Wände. Alles musste zunächst herausgebrochen, herausgestemmt und herausgetragen werden, bis zurück auf die Grundmauern. Viel Staub kam dabei zu Tage. Aber auch manches Fundstück, das man an und hinter den Wänden fand. Da waren unterschiedlichste Tapeten, aus verschiedenen Jahrzehnten. Hinter den Tapeten an den Wänden hatten Maurer und Maler Nachrichten oder Zeichen hinterlassen.
Abb. 36: Reste des alten Metzgerladens Quelle: Privates Archiv |
In den Spalten der Türeinrahmungen steckten alte Zeitungsreste von 1956 und aus den 70er Jahren. Ein Papierfetzen mit der Feststellung ,wird nichts‘, bei einer früheren Stromverteilung, motivierte uns erst recht, weiter zu machen.
Als die alten Heizkörper zum Sandstrahlen demontiert wurden, stießen wir auf eine alte Fliesenwand des Metzgerladens. Zumindest sah es aus wie eine Fliesenwand. Beim näheren Betrachten erkannten wir, dass es eine gemalte Fliesenwand war. Die Fugen waren so fein und sauber in kräftigem Rot gezogen, dass man den Unterschied kaum merkte. Mit viel Liebe zum Detail und handwerklicher Perfektion hatte man das Ladenlokal seinerzeit hergerichtet.
Heute ist die Fundstelle hinter einer Gipskartonplatte konserviert. Sie kann so von kommenden Bewohnern des Hauses bei ihrer Spurensuche leicht wiedergefunden werden.
Diese Projektarbeit kann späteren Bewohnern bei der Spurensuche helfen. Denn die Auseinandersetzung mit der Geschichte und den Geschichten dieses Hauses ist niemals abgeschlossen. Uns ist es eine Aufforderung, das Bewusstsein zur Geschichte und im Besonderen zu den Ereignissen, die in diesem Hause stattgefunden haben, zu bewahren.
Unser Zuhause ist ein Haus mit Geschichte und Zukunft. Wir haben die alten Baupläne zu Rate gezogen und nach heutigen Gesichtspunkten renoviert. Der Charme eines alten Stadthauses, kombiniert mit persönlich ausgesuchten Möbeln, zeitgenössischer Kunst und moderner Haustechnik steht gleichermaßen für Zeitgeist und Tradition. Mit Anerkennung und Mut wollen wir ein weiteres Kapitel des Hauses aktiv gestalten. Wir sind Teil der Geschichte dieses Hauses und stolz auf die Menschen, die hier ihren Traum vom Glück verwirklicht haben.
Wir denken uns in die Menschen hinein, die wegen ihres jüdischen Glaubens eine andere Sichtweise hatten. Was kann man von ihnen lernen? Wir erinnern uns der Menschen, die wegen ideologischen Irrglaubens verfolgt und ermordet wurden. Was muss geschehen, dass sich so etwas nie wiederholen wird? Wir sehen das Lebenswerk unserer (Schwieger-)Eltern und Großeltern. Ihr seid uns Vorbild. Was können wir von euch lernen, um die heutigen Herausforderungen zu bestehen. Und wir sehen unsere eigene Familie. Welche persönlichen Lehren ziehen wir aus der gemeinsamen Zeit in ,unserem Haus‘?
Abb. 37-38: Gegenüberstellung der Bauplanung von 1891 mit der heutigen Hausansicht (2023) Quelle: Privates Archiv |
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8 Fazit und Ausblick
Wer als Fremder an ,unserem Haus‘ vorbeigeht, sieht nur das schöne Haus, den Garten und ein wenig von dem Gartenhäuschen, der Remise. Er ahnt nichts von den Schicksalsschlägen, die die Hausbewohner erlitten haben, und sieht nicht, wie sehr Fleiß, Wille und Mut das Haus geprägt haben. Lediglich die Stolpersteine vor dem Haus deuten auf jüdische Vergangenheit hin. Der Blick in die Geschichte und die Geschichten offenbart eine neue Sichtweise.
Für mich war es ein Leichtes, sich mit der Historie des Hauses auseinander zu setzen, da sich andere schuldig gemacht haben. So auch der ,Arier‘ als vorübergehender Hausbesitzer. Er war Amtsinspektor und sicherlich ein gesetzestreuer Bürger. Alles, was er während der Nazizeit getan hat, war im Nachhinein nicht richtig. Er hat die Rechtsordnung dieser Zeit befolgt. Er hat gesetzmäßig und ordnungsgemäß gehandelt und sich nicht strafbar gemacht. Trotzdem war sein Handeln moralisch falsch.
Mit Respekt habe ich die Geschichten gesammelt, die man mir erzählt hat. Mit dem Herantasten an die Familiengeschichte der Frankenthals, bei der Durchsicht der Baupläne und Gesprächen mit Zeitzeugen konnte ich mich deutlich besser in die Menschen in ihrer Zeit hineinversetzen und ihre Lebens- und Arbeitsweise verstehen. Dadurch habe ich das Haus neu kennengelernt. Ich sehe die Demütigungen, die die Familie Frankenthal erlitten hat. Acht Mitglieder der Familie aus diesem Haus wurden in den Konzentrationslagern ermordet, ebenso wie weitere ihrer Verwandten.
Wie anders wäre das Leben der Familie Frankenthal verlaufen, wäre all das nicht passiert? Das Haus wäre vermutlich immer noch im Besitz eines Nachkommen, der vielleicht die größte Metzgerei am Ort betreiben würde. Vielleicht wäre ein Familienmitglied gar Bürgermeister der Stadt geworden und hätte die Geschicke Schmallenbergs gelenkt. Vielleicht wäre ein Familienmitglied nochmals Schützenkönig gewesen. Die Welt wäre eine andere, vielleicht eine gerechtere. Wie einen viel zu schweren Rucksack mussten die Überlebenden ihr Schicksal ein ganzes Leben lang mit sich herumtragen. Sie wurden oft nicht gehört. Erst in einem langjährigen Verfahren konnte die Erbengemeinschaft ihr Recht durchsetzen. Sie hat keine Wiedergutmachung erhalten, nur ihr Eigentum. Ich schreibe dieses, um der Familie Frankenthal ein wenig mehr Gerechtigkeit zukommen zu lassen.
Mit viel Fleiß, Wille und Mut ist das Haus mehrmals umgebaut worden. Hier liegen auch die Wurzeln der Familie Agnes und Erich Knappstein. Hier haben sie ihre Pläne umgesetzt und hier begann ihre Unternehmenshistorie, die in diesem Jahr ihr 75-jähriges Jubiläum feiert. Dieses Haus hatte auf mich, aber vor allem auf meinen Ehemann Andreas, eine so große Anziehungskraft, dass wir von Berlin nach Schmallenberg zurückgekehrt sind. Es ist dieses alte Haus, das wir mit viel Liebe wieder gemeinsam hergerichtet haben und in dem unsere Kinder groß geworden sind.
Wenn spätere Bewohner sich einmal mit der Geschichte und den Geschichten des Hauses auseinandersetzen wollen, können sie hier mehr erfahren. Wenn andere Schmallenberger oder Fremde hinter die äußere Fassade des Hauses blicken wollen, dann ist diese Arbeit ein Beitrag gegen das Vergessen:
,Der Mensch ist erst wirklich tot, wenn niemand mehr an ihn denkt.‘
Bertolt Brecht
(2023)
[i] Vgl. Otto, Norbert (2015) Stolpersteine, S. 218 bis 240 (Selma Friedrich S. 239)
[ii] Ebd.
[iii] Vgl. Krause, Jochen (1994) Zeichen am Wege, S. 50
[iv] Vgl. Stoob, Heinz (1969) Grundrissbild und Stadtentwicklung, S. 46
[v] Ebd. S. 51 ff.
[vi] Vgl. Becker, Günther (1969) Untergegangene Orte in der Umgebung Schmallenbergs, S. 69 f.
[vii] Stoob, Heinz (1975) Westfälischer Stadtatlas
[viii] Der rote Pfeil zeigt die Hagenbefestigung mit dem heutigen Grundstück Oberer Hagen 8, das bis zum 14. Jh. zur Vorstadtsiedlung gehörte und im 16. Jh. in ein Gartengrundstück umgewandelt wurde.
[ix] Vgl. Wiegel, Josef (1969) Dokumente zum Wiederaufbau der Stadt nach dem großen Brande von 1822, S.109-115
[x] Vgl. Bloch-Pfister (2016) Historischer Stadtrundgang Schmallenberg, Station 1 Textilindustrie
[xi] Ebd.
[xii] Vgl. Becker, Horst, S. 118 in: Wiegel, Josef (Red.) (1969) Beiträge zur Geschichte der Stadt Schmallenberg
[xiii] Vgl. Abb. 7, Stadtplanung nach 1822. Der rote Pfeil zeigt die Lage des Grundstücks Unterm Hagen 10 (heute Oberer Hagen 8) am Rand der neugeplanten Stadt.
[xiv] Vgl. Jacob, Werner (1997) Ich trage die Nummer 104653, S. 10
[xv] Tröster, Helga (1986) Geschichte und Schicksal der Juden in Schmallenberg, S. 51
[xvi] Vgl. Jacob, Werner (1997) Ich trage die Nummer 104953, S. 13; Otto, Norbert (2015) Stolpersteine, S. 18
[xvii] Vgl. Ebd. S. 15
[xviii] Jaecker, Tobias (2002) Judenemanzipation und Antisemitismus im 19. Jahrhundert, 2.5 Von 1848 bis zur Vollendung der Emanzipation (1869/71)
[xix] Ebd.
[xx] Auch nach dem Bau der Synagoge in Schmallenberg wurde der Religionsunterricht nicht hier, sondern weiterhin abwechselnd in den Elternhäusern erteilt.
[xxi] Vgl. Otto, Norbert (2015) Stolpersteine, S. 95
[xxii] Vgl. Otto, Norbert (2021) Die Sterns. Aus dem Sauerland. In alle Welt., S. 15
[xxiii] Vgl. Otto, Norbert (2015) Stolpersteine, S. 33
[xxiv] Jaecker, Tobias (2002) 2.5
[xxv] Ebd. S. 10
[xxvi] Ebd. S. 10
[xxvii] Vgl. ebd. S. 219 ff.
[xxviii] Ebd. S.252
[xxix] Ebd. S. 83
[xxx] Ebd. S. 83
[xxxi] Frankenthal, Hans (2012) Verweigerte Rückkehr, S. 37-38
[xxxii] Otto, Norbert (2015) Stolpersteine, S. 83
[xxxiii] Frankenthal, Hans (2012) Verweigerte Rückkehr, S. 95.
[xxxiv] Otto, Norbert (2015) Stolpersteine, S. 227
[xxxv] Ebd. S. 239
[xxxvi] Hockerts, Dr. Hans Günter (2013) APuZ, S. 1
[xxxvii] Vgl. Haase, Dr. Carl (1969) S. 27 in: Wiegel, Josef (Red.) (1969) Beiträge zur Geschichte der Stadt Schmallenberg
[xxxviii] Otto, Norbert (2015) Stolpersteine, S. 222
[xxxix] Eine beglaubigte Abschrift befindet sich im privaten Besitz. Dort ist vermerkt: „Der eingetragene Grundbesitz stammt ursprünglich aus jüdischem Besitz und unterliegt der Sperre der Militärregierung. Wegen dieses Grundbesitzes ist ein Rückerstattungsverfahren bei der Wiedergutmachungskammer des Landgerichts Arnsberg anhängig.“
[xl] Otto, Norbert (2015) Stolpersteine, S. 222
[xli] Vgl. Siebenkotten, Klaus (1969) Schmallenberg, das Gesicht einer Stadt in Vergangenheit und Gegenwart, S. 229 f.
[xlii] Privates Archiv, hier: Johannes Wiesemann, Architekt, Erklärung zum Bauantrag, Anbau 1970
Abbildungsverzeichnis
Abb. 1: Buchdeckel der Baupläne von 1891 (8 Seiten)
Abb. 2-4: Die älteste vorliegende Grundbuchbenachrichtigung von 1892
Abb. 5: Ansicht der Stadt Schmallenberg und des Klosters Grafschaft von Norden nach 1680
Abb. 6: Rekonstruktion der 1822 abgebrannten Stadt Schmallenberg mit Vorstadtsiedlung
Abb. 7: Stadtplan für den Wiederaufbau nach 1822
Abb. 8: Der Situationsplan von 1891
Abb. 9: Pflasterarbeiten zur Befestigung an der Weststraße zu Beginn des 20. Jh.
Abb. 10: Seite V. der Baupläne von 1891 (Vorderansicht und Längenschnitt)
Abb. 11: Familie Frankenthal gegen Ende der 1920er Jahre auf der Eingangstreppe des Hauses
Abb. 12: Seite VI. der Baupläne von 1891 (Querschnitt und Seitenansicht von Norden)
Abb. 13: Seite II. der Baupläne von 1891 (Grundriss von Keller- und Erdgeschoss)
Abb. 14: Seite III. der Baupläne von 1891 (hintere Ansicht und Grundriss der 1. Etage)
Abb. 15-17: Gunter Demnig beim Verlegen von neun Stolpersteinen
Abb. 18: Brief von Margot Goetz, geb. Frankenthal, vom 1. November 1947
Abb. 19: Adele Frankenthal mit ihren Söhnen Hans und Ernst, Unterm Hagen 10 (um 1927)
Abb. 20: Schreiben der IHK Siegen vom 31. Juli 1948
Abb. 21-22: Möbelwagen bei der Beschriftung (um 1950) und von der Seite
Abb. 23: Bauzeichnung von 1957
Abb. 24: Schaufenster und Ladenzugang im Hochparterre
Abb. 25: Werbung aus den 1950er Jahren
Abb. 26: Einbau Eingang und Schaufenster 1956
Abb. 27: Vorderansicht in den frühen 1960er Jahren
Abb. 28: Schaufenster mit Treppe an der Südseite
Abb. 29: Baupläne für einen Anbau von 1970
Abb. 30: Peugeot 204 mit ,Prilblume‘ vor den Schaufenstern (um 1974)
Abb. 31-34: Gegenüberstellung der Gebäude Wohnhaus und Remise mit Fotos von 1981 und 2023
Abb. 35: Fundstück ‚wird nichts‘
Abb. 36: Reste des alten Metzgerladens
Abb. 37-38: Gegenüberstellung der Bauplanung von 1891 mit der heutigen Hausansicht (2023)
Quellenverzeichnis
Becker, Günther Untergegangene Orte in der Umgebung Schmallenbergs (1969) in: Wiegel, Josef (Red.), Beiträge zur Geschichte der Stadt Schmallenberg 1244 - 1969, S. 67-97
Becker, Horst Beiträge zur Entstehung der Schmallenberger Textilindustrie (1969) in: Wiegel, Josef (Red.), Beiträge zur Geschichte der Stadt Schmallenberg 1244 - 1969, S. 117-129
Bloch-Pfister, Dr. Alexandra Historische Stadtrundgang Schmallenberg (2016) Hrsg.: Verkehrsverein Schmallenberg e.V.
Frankenthal, Hans Verweigerte Rückkehr, Erfahrungen nach dem Judenmord (2012) Hrsg.: Bibliothek der Erinnerung vom Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin
Haase, Dr. Carl Schmallenberg im Rahmen der Geschichte der deutschen Stadt (1969) in: Wiegel,
Josef (Red.), Beiträge zur Geschichte der Stadt Schmallenberg 1244 - 1969, S. 13-37
Hockerts, Dr. Hans Günter Bundeszentrale für politische Bildung, Veröffentlichung Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ), vom 7. Juni 2013. Prof. Dr. Hans Günter Hockerts, Lehrstuhl für Zeitgeschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München.
Jacob, Werner Ich tragen die Nummer 104653 (Jüdisches Leben im Kreis Olpe, Band 1) Werner Jacob im Gespräch mit Norbert Otto (1997) Hrsg.: Der Oberkreisdirektor des Kreises Olpe, Kreisarchiv, ISBN 3-9802697-5-2
Jaecker, Dr. Tobias Judenemanzipation und Antisemitismus im 19. Jahrhundert (2002), WorldPress & Theme Write, Berlin
Krause, Jochen Zeichen am Wege, Schmallenberger Geschichten von Stadt und Land (1994) Hrsg.: Volksbank Schmallenberg, Verlag Grobbel, Fredeburg
Otto, Norbert in Zusammenarbeit mit Helmut Voß und Andreas Knappstein, „Stolpersteine“ Ein Stadtrundgang auf den Spuren der ehemaligen jüdischen Gemeinde in Schmallenberg (2015) Hrsg.: Heimat- und Geschichtsverein Schmallenberger Sauerland e.V.
Otto, Norbert Die Sterns. Aus dem Sauerland. In alle Welt. (2021) Hrsg: Heimat und Geschichtsverein Schmallenberger Sauerland e.V.
Siebenkotten, Klaus, sen. Schmallenberg, das Gesicht einer Stadt in Vergangenheit und Gegenwart (1969) in: Wiegel, Josef (Red.), Beiträge zur Geschichte der Stadt Schmallenberg 1244 - 1969,
S. 215-234
Stoob, Heinz Westfälischer Städteatlas, Lieferung I Nr. 13 (1975) Hrsg.: Heinz Stoob, Verlag W. Größchen KG, Dortmund
Stoob, Heinz Grundrissbild und Stadtentwicklung von Schmallenberg (1969) in: Wiegel,
Josef (Red.), Beiträge zur Geschichte der Stadt Schmallenberg 1244 - 1969, S. 39-55
Tröster, Helga Geschichte und Schicksal der Juden in Schmallenberg (1986) in: Sonderdruck Schmallenberger Heimatblätter 55 (1983-1985), Hrsg.: Schützengesellschaft Schmallenberg
Wiegel, Josef Dokumente zum Wiederaufbau der Stadt nach dem großen Brande von 1822 (1969) in: Wiegel, Josef (Red.), Beiträge zur Geschichte der Stadt Schmallenberg 1244 - 1969, S. 109-115
Wiegel, Josef (Red.) Beiträge zur Geschichte der Stadt Schmallenberg 1244 – 1969 (1969) Hrsg.: Stadt Schmallenberg, Red. Josef Wiegel