- Der Gruftenweg auf dem Siegener Lindenbergfriedhof

von Martina Groben

Prächtig soll es aussehen, dieses Glasmosaik: ein ikonenhaftes Christushaupt auf hellblauem Hintergrund, umgeben von goldenen Blumenrankenornamenten, umlaufend ein Bibelspruch aus Hebr. 4,9: „Darum ist noch eine Ruhe vorhanden dem Volk Gottes.“ Doch der Auftraggeber hat keine Gelegenheit mehr, dieses Kunstwerk zu bewundern: Emil Luyken stirbt vor seiner Fertigstellung am 12. Mai 1906 und wird vier Tage später beigesetzt in der neu erbauten Familiengruft, zu dessen Zierde das Mosaik in Auftrag gegeben worden war.

Mehr als 100 Jahre später hat der Zahn der Zeit deutlich genagt an der Gruft und dem Mosaik, wie auch an vielen anderen der sechzig Gruften und Grabstellen des Gruftenweges auf dem Siegener Lindenbergfriedhof. Im Jahr 2013 ist das Mosaik der Gruft Luyken mit einer blauen Plastikplane abgedeckt, denn es ist stark beschädigt und teilweise herabgefallen. Die Gruft selbst muss mit Holzstützpfeilern abgestützt werden, da sie akut einsturzgefährdet ist. Seit 2003 liegt das Nutzungsrecht bei der Stadt, welche nun die Aufgabe hat, die Grabstätte wieder instand setzen zu lassen. Auch viele andere Gruften müssen dringend restauriert werden. Keine dieser Grabstätten soll aufgegeben oder eingeebnet werden, denn der Gruftenweg steht seit 1999 unter Denkmalschutz. Gruften sind eine in Westfalen seltene Bestattungsform, schon deshalb ist der Gruftenweg besonders erhaltenswert. Das künstlerisch und kulturhistorisch wertvolle Baudenkmal ist ein wichtiges Zeugnis der Sepulkralkultur. Angelegt wurde es im Kaiserreich gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Familien der Siegener Oberschicht schufen sich damit beeindruckende Grabdenkmäler, welche von Generation zu Generation weitervererbt wurden und die noch heute vom Wohlstand der Stadt und dem Repräsentationsanspruch der Oberschicht zeugen. (Nicht alle dieser Grabstellen sind jedoch Gruften, es sind auch normale Erdbestattungen darunter.)
Erstmals erwähnt wurden diese Erbbegräbnisse in den Stadtrechnungen des Haushaltsjahres 1878/79; ein Verkauf ist hier allerdings noch nicht verzeichnet. Erst für das Jahr 1882/83 werden die ersten Verkäufe genannt. Das Friedhofsstatut vom 21. Juli 1887 legte fest, dass für die Anlage von Erbbegräbnissen an der äußeren Grenze des Friedhofs ein Streifen Land von 4,20m Tiefe reserviert werden sollte. Dieser Streifen wurde eingeteilt in Abschnitte von 1,35m Breite. Wohlhabende Bürger konnten nun einen oder mehrere dieser Abschnitte erwerben, allerdings blieben die Erbbegräbnisse Eigentum der Stadt. Die Käufer bekamen lediglich das Beerdigungsrecht für sich, ihre Angehörigen und Nachkommen übertragen. Für jeden Abschnitt war ein Betrag von 200 Mark an die Stadtkasse zu entrichten, der aufgrund von Geländeschwierigkeiten auf bis zu 100 Mark reduziert werden konnte. (Neben diesem Betrag konnten noch weitere Gebühren anfallen.) So ein Grabmal konnten sich wirklich nur sehr reiche Menschen leisten (zum Vergleich: Die Anfertigung eines einfachen Grabes kostete 1,80 Mark, für Arme 1 Mark); es waren angesehene Bürger mit herausragender Bedeutung für die Wirtschaft und Gesellschaft der Stadt. Einer von ihnen war Emil Luyken. Er wurde am 29. Mai 1845 in Berge bei Hamm geboren und absolvierte eine Kaufmannslehre. Später erwarb er in Siegen eine Lederfabrik und ließ sich hier nieder. Wie aus der Rechnung der Stadtkasse hervorgeht, bezahlte Emil Luykens Witwe im Jahr 1906 420 Mark für drei Erbbegräbnisstellen. Dazu kamen noch die Kosten für das Mosaik, die 775 Mark betrugen, wie man in der Chronik der Familie Luyken nachlesen kann.
Zwei Grabstellen weiter rechts liegt die Gruft der Familie Marx. Dieses Grabmal fällt auf durch seine besondere Gestaltung: Die rückseitige Mauer stellt den Eingang eines Bergwerkstollens dar. Bei dem Auftraggeber handelt es sich um den Bergwerksdirektor Friedrich Marx der sich offensichtlich sehr mit seinem Beruf identifiziert hat. Er kam am 21 Februar 1836 in Nauborn bei Wetzlar zur Welt und starb am 8. Februar 1908. Friedrich Marx war, wie die Siegener Zeitung am 8. Februar 1908 in einem Nachruf schrieb, „ein Mann, der mit dem Siegerländer Bergbau seit Jahrzehnten aufs innigste verwachsen war.“ Marx war Markscheider (Vermessungsingenieur im Bergwerk), Lehrer an der Siegener Bergschule, technischer Oberleiter der Grube Neue Haardt bei Weidenau und Direktor der Grube Storch und Schöneberg bei Gosenbach. Auch in der Politik war Marx tätig, als Mitglied des Kreistags und der Siegener Stadtverordnetenversammlung. Die Siegener Zeitung ehrte ihn als „ein edler Charakter, treu und gut, ein Helfer und Tröster allen Bedrängten und Traurigen.“ Auch die Fertigstellung des Grabmals war der Siegener Zeitung am 20. November 1909 ein Artikel wert: „Das Grabmal ist ein stimmungsvolles Kunstwerk, das seinem Schöpfer, Herrn Bildhauer August Hagen zur besonderen Ehre gereicht. Nicht nur, daß es den üblichen Prunkstil vermeidet, es ist auch charakteristisch für unser Land und für den Heimgegangenen, dessen Andenken es ehren soll.“ Informationen über die Kosten für die Grabstelle gibt es nicht, da die Rechnungen für die Jahre 1907-1916 fehlen. [Auszug aus der Außerordentlichen Einnahme der Jahresrechnungen der Stadtkasse/ ab 1897/98 Stadthauptkasse Siegen über den Verkauf von Erbbegräbnissen auf dem Lindenberg-Friedhof in Siegen, Stadtarchiv Siegen, S.2.] Die Gruft befindet sich seit 1970 in städtischem Besitz, und auch sie ist stark restaurierungsbedürftig. Das Bruchsteinmauerwerk, das den Stolleneingang darstellt, ist stark beschädigt, Steine sind herausgebrochen, und auch sonst sind starke Beschädigungen erkennbar. Umfangreiche Restaurierungsarbeiten sind nötig, um dieses besondere Grabmal zu erhalten. Die Bronzeskulptur eines Bergmannes, die einst auf dem Grabmal stand, befindet sich derzeit im Museum. Es ist beabsichtigt, sie nach der Restaurierung wieder aufzustellen.
In wesentlich besserem Zustand befinden sich die beiden Grabstellen der Familie Gontermann. Sie sind weniger aufwendig gestaltet, aber bereits saniert und in gutem baulichen Zustand. Das Nutzungsrecht liegt seit 2004 bzw. 2012 bei der Stadt. Auffällig ist, dass für diese beiden Grabstellen laut Stadtrechnung der weitaus größte Betrag gezahlt wurde. Im Jahr 1917 kaufte Gustav Gontermann acht Erbbegräbnisse für seine Familie und die seines Bruders Heinrich Gontermann und bezahlte 2665,50 Mark. Später sind noch einmal 1184,22 Mark für weitere drei Begräbnisstellen verzeichnet. Wer sich solche Beträge leisten konnte, musste schon sehr wohlhabend sein. Tatsächlich handelt es sich hier um den Teilhaber der Walzengießerei Gontermann, die noch heute als Firma Gontermann-Peipers existiert. Gemeinsam mit seinem Bruder Heinrich war Gustav Geschäftsführer der Firma Gontermann. Gustav Gontermann wurde am 7. Januar 1855 in Siegen geboren und starb hier am 3. Mai 1933; Heinrich Gontermann kam am 10. April 1866 zur Welt und starb am 11. Dezember 1929. Beide sind in ihren Familiengrabstätten (bei denen es sich übrigens nicht um Gruften, sondern um normale Erdbestattungen handelt) beigesetzt. Der erste, der hier zu Grabe getragen wurde, war jedoch der Sohn von Heinrich Gontermann, der ebenfalls Heinrich hieß. Er wurde am 25. Februar 1896 geboren. Im 1. Weltkrieg wurde er zum Jagdflieger ausgebildet und erlangte als Fliegerleutnant über das Siegerland hinaus in ganz Deutschland Berühmtheit. Aufgrund seiner Verdienste wurde ihm der Orden „Pour le mérite“ verliehen. Am 30. Oktober 1917 verunglückte er tödlich, als er bei einem Übungsflug bei Marle in Frankreich abstürzte.
Viele der Gruften des Gruftenweges sind längst wieder im Besitz der Stadt, bei einigen läuft das Nutzungsrecht für die Familien noch einige Jahre, in manchen können auch heute noch Verstorbene bestattet werden. Die drei Beispiele der Familien Luyken, Marx und Gontermann sollten zeigen, welche Bedeutung die Familien, die sich die Gruften auf dem Lindenbergfriedhof leisten konnten, für Wirtschaft und Gesellschaft der Stadt hatten und vor Augen führen, wie wichtig es ist, diese künstlerisch und historisch bedeutenden Baudenkmäler zu erhalten.

Quellen:

Bescheid der Stadt Siegen über die Eintragung in die Denkmalliste vom 06.10.1999
Stellungnahmen des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe an die Stadt Siegen, Untere Denkmalbehörde, vom 27. und 31.07.2012

Auszug aus der Außerordentlichen Einnahme der Jahresrechnungen der Stadtkasse/ ab 1897/98 Stadthauptkasse Siegen über den Verkauf von Erbbegräbnissen auf dem Linden-berg-Friedhof in Siegen, Stadtarchiv Siegen

Ortsstatut betreffend den Begräbnisplatz am Lindenberg in Siegen, in: Beilage zu Nr. 13 der Siegener Zeitung, 24.01.1889


Literatur:
Chronikblätter für die Familie Luyken/Leuken und ihre Anverwandten, 82. Jahrgang 2003

Geschichte der Siegener Bergschule, Festschrift, Siegen1904

Zeitschrift „Siegerland“, 3. Bd., 4./5. Heft, Siegen 1917